Türkis glitzert das Wasser, so weit das Auge reicht. Mittendrin eine junge Frau, die elegant durchs Wasser schwebt und sich von den sanften Wellen treiben lässt. Endlich Zeit, auszuspannen! Die zweitägige Auszeit am Trinity Beach an der Ostküste Australiens, etwas nördlich der Stadt Cairns, hat sich Mountainbikerin Jolanda Neff mehr als verdient.
Jürgen FreundDie 24-Jährige holt am vergangenen Samstag in Cairns überlegen WM-Gold im Cross-Country – der grösste Erfolg ihrer Karriere. Sie trägt damit zur herausragenden WM-Bilanz der Schweizer Equipe bei, die in der Elite Team-Gold und dank Nino Schurter und Thomas Litscher auch Gold und Bronze im Männer-Rennen gewinnt.
Jürgen FreundAls Neff durchs Ziel fährt, jubelt sie. Dann fällt der ganze Druck von ihr ab. Die Tränen fliessen. Auch Tage danach ist ihre Energie fast greifbar. Es sprudelt aus ihr heraus: «Ich bin noch immer überwältigt. Dieser Sieg ist umso schöner, weil ich eine schwierige Zeit hinter mir habe.»
Jürgen FreundBereits Anfang Saison hat Jolanda Neff eine Vorahnung, dass dieser Moment Realität werden könnte. Sie darf bei ihrem neuen Arbeitgeber, dem polnischen Kross Racing Team, den Rahmen des neuen Bikes selber designen.
Jürgen FreundSie wählt den mythischen Vogel Phönix, der nun in Flammen ihr rotes Bike ziert, sowie den Spruch «race like a phoenix» («fahr wie ein Phönix»). «Ich taufte mein Bike Phönix, auch wenn mich ein Teamkollege auslachte und meinte: «Joli, es ist doch nur ein Velo!› Aber für mich passte es. Denn im vergangenen Jahr ging es mir wirklich nicht gut.»
Jürgen FreundAus der Asche zurück an die Weltspitze – dahin, wo sie schon einmal war. Dank ihren körperlichen Fähigkeiten. Und der Qualität, sich furchtlos einen steilen Abhang voller Felsbrocken hinunterzustürzen. Ein Grossteil ihrer Karriere verläuft genauso schnell.
Jürgen Freund2014 wird sie U23-Weltmeisterin, 2014 und 2015 gewinnt sie den Gesamtweltcup in der Elite. Sie dominiert die Konkurrenz nach Belieben, kennt kaum anderes als das Siegen. Doch im vergangenen Jahr gerät ihr Aufstieg ins Stocken.
Jürgen FreundSie steht bei der Marathon-WM und der EM zwar zuoberst auf dem Podest. Doch an den Grossereignissen WM und Olympia wills nicht recht klappen, wie von ihr und vom Umfeld, den Fans, Medien und Sponsoren erwartet. Die Ränge 8 und 6 statt den Siegen sind die Quittung für Stürze im Vorfeld und nicht auskurierte Verletzungen.
Jürgen FreundEnde Saison verliert Neff auch noch ihren Arbeitgeber, das Stöckli Pro Team wird vorzeitig aufgelöst. Zu den körperlichen Problemen gesellen sich Unsicherheit und Frustgefühle. «Ich habe nie an meinem Weg gezweifelt. Aber ich fühlte mich wie in ein zu eng geschnürtes Korsett gequetscht. Die Erwartungen, der Druck, die vielen Leute, die sich plötzlich eingemischt haben – das war extrem», beschreibt Neff ihre Stimmung in der schwierigen Zeit.
Jürgen FreundDie für sie typische Leichtigkeit, ihre positive Art und auch der Drang, einfach Spass zu haben auf dem Velo, kamen ihr etwas abhanden. Auf der Suche nach Luft und dem inneren Feuer wagt Neff im Frühling einen Neuanfang, und das gleich auf mehreren Ebenen.
Jürgen FreundSie unterschreibt beim neuen Team Kross, beginnt ein Studium in Geschichte, Englisch und Französisch und zieht von Thal SG in eine WG nach Zürich. «Ich wusste, dass es hart wird. Schliesslich war es noch viel härter, als ich es mir je vorgestellt hatte», sagt Neff über die Kombination von Studium und Spitzensport.
Jürgen FreundNeben viel Neuem setzt sie auch auf Altbewährtes: In personellen Dingen vertraut die Athletin – entgegen der Meinung diverser Kritiker – weiterhin auf Vater Markus als Trainer und wichtigsten Berater. «Meinen Eltern habe ich alles zu verdanken!»
Jürgen FreundDer Vogel fliegt wieder! Und das genau zur richtigen Zeit. Und das Wichtigste: «Ich habe wieder mega Spass und Lust am Velofahren.» Mit dieser Einstellung kann sie an der WM auch eine Schulterverletzung nicht bremsen.
Jürgen FreundIhren bisherigen Karriere-Höhepunkt kann Neff zwar nur kurz, aber in vollen Zügen geniessen. «Wir haben nach dem Sieg so lange gefeiert, bis sie uns aus dem Club rausgeschmissen haben», sagt die Singlefrau und lacht.
Jürgen FreundNach den zweitägigen Kurzferien mit ihren Teamkolleginnen und -kollegen – mit Baden, Shoppen, Jetskifahren, Tauchen und Helikopterfliegen – tritt sie die Heimreise in die Schweiz an.
Jürgen FreundUnd hier geht es gleich rasant weiter: Am Montag startet das Uni-Semester. Mit den Goldmedaillen, der wiedergewonnenen Unbeschwertheit und ihrem Wissensdurst – «mein Ziel ist es, nächstes Semester weniger Lektionen zu besuchen, aber mich interessieren so viele Fächer» – dürfte ihr die Rückkehr in den Alltag nicht allzu schwerfallen.
Jürgen FreundAuf der langen Reise bleibt ihr über den Wolken auch genügend Zeit, sich über ein neues Velodesign Gedanken zu machen. Denn Phönix fliegt so hoch wie nie zuvor.
Jürgen Freund