Mujinga Kambundji, 26, balanciert die kleine Limette vorsichtig auf dem Löffel. Den Stiel hat sie zwischen die Zähne geklemmt. Dann versucht sie, die Frucht auf dem Löffel einer älteren Vietnamesin abzulegen. Die Anwesenden im Evakuationszentrum in Dat Mui lachen herzhaft. Mit diesem Limetten-Spiel wird im Süden Vietnams das Eis vor einer Sitzung gebrochen; manchmal wird auch Karaoke gesungen, um die Stimmung aufzulockern.
Sie lernte das Helfen schon als Kind
Mujinga Kambundji ist Rot-Kreuz-Botschafterin der Schweiz. Ihr sind solche Rituale des Austausches nicht fremd. Sie ist in einer Grossfamilie aufgewachsen, in der Helfen ganz zentral ist. Zuerst innerhalb der Familiengemeinschaft in Bern – sie hat drei Schwestern. Zudem hat sie schon früh mitbekommen, wie ihr Vater seine Angehörigen im Kongo unterstützt. «Vater erzählte uns viel von der Familie in seiner Heimat und wie sie dort leben. Damit wollte er uns kein schlechtes Gewissen machen. Aber wir sollten wertschätzen, was wir hier in der Schweiz haben. Und eine gute Ausbildung machen.»
Mit dieser Einstellung schaffte Mujinga Kambundji die Matur, studiert heute und wurde eine der besten Sprinterinnen der Welt. In diesem Jahr blieb sie zum ersten Mal unter der magischen Grenze von elf Sekunden für 100 Meter.
In Vietnam gibt es keinen Trainingsplan
Die freie Zeit zwischen Saisonende und Wiederaufnahme des Trainings nutzt die Ausnahmeathletin jetzt für die SRK-Reise durch Vietnam. Sie kann sich voll auf das exotische Land einlassen. Für einmal gibts keinen Trainingsplan, darf sie das einheimische Essen ohne Einschränkungen geniessen: Reis mit verschiedenen Gemüsen, Fisch und Meeresfrüchte sowie Schwein.
Die Gruppe mit Kambundji besucht gerade das neue Evakuationszentrum in der Provinz Cà Mau ganz im Süden Vietnams. Das Gebiet ist von Kanälen durchzogen, die meisten Häuser sind direkt am und über dem Wasser gebaut. Die Bewohner kämpfen mit Überschwemmungen nach Wirbelstürmen, mit dem Anstieg des Meeresspiegels und mit der Erosion des Bodens. Oft drohen ihre Häuser zusammenzubrechen. «Wir hängen hier völlig von der Natur ab», sagt Danh Thi Soi, deren Familie vom Fischfang lebt. Sie ist eine Freiwillige des lokalen Roten Kreuzes, die ihre Mitbewohner auf Katastrophen vorbereitet. Kambundji ist beeindruckt: «Die Menschen hier machen einfach weiter. Selbst nach Naturkatastrophen bleiben sie am selben Ort und bauen alles wieder auf.»
Auf der dreistündigen Bootsfahrt ins Dorf hat die schnellste Bernerin einen Eindruck erhalten, wie das Leben hier am Wasser abläuft. Oft zückt sie das Handy und hält ihre Eindrücke fest. Sie ist eine erfahrene Reisende, lässt sich offen und ohne Vorbehalte auf Unbekanntes ein. Gerne auch ohne Plan streift sie durch neue Länder. Nach ihrem Besuch der SRK-Projekte bleibt sie darum noch weitere zwei Wochen in Vietnam.
Taifun Linda hatte schwer gewütet
Bei einem Auffrischungs-Erste-Hilfe-Kurs von Freiwilligen lernen die Dorfbewohner von Khanh Binh Tay Bac, Verwundete zu bergen und so lange zu versorgen, bis medizinische Hilfe eingetroffen ist. Auch Mujingas Arm wird in dieser Übung geschient. Den Menschen hier im Süden ist Taifun Linda von 1997 noch in schrecklicher Erinnerung: Über 3000 Menschen starben damals. Sollte sich eine solche Katastrophe wiederholen, wollen sie besser gewappnet sein.
Weiter gehts per Töffli zum nächsten Projekt, einer Evakuierungsstrasse, die vom SRK mitfinanziert wurde. Mujinga sitzt auf dem Hintersitz und braust über schmale Strassen vorbei an kleinen Häusern. Manchmal brettern sie auch über Reiskörner, die zum Trocknen auf dem Boden liegen. Die Einheimischen rufen Kambundji zu oder winken. Sie lacht und winkt zurück, macht Selfies.
Kambundji kommuniziert mit Händen und Füssen
Die Reisbäuerin Le Anh Hong begrüsst die kleine Delegation: «Hallo, wollt ihr etwas trinken?» Spontan lädt sie zu sich nach Hause ein. Schon sitzt Mujinga auf dem Sofa im Wohnzimmer der Familie, hört zu, was die 49-Jährige aus ihrem Leben erzählt. Le Anh Hongs Haus ist von Reisfeldern umgeben. Vom Meer trennt sie ein kleiner Damm, ein Kanal und neu eben die Evakuierungsstrasse. Wenn die Felder bei Regenfällen und Sturm früher im Matsch versanken, gab es kaum ein Wegkommen – weder zur Schule noch fürs Geschäft oder zum Einkaufen.
Nun ist der Weg zu einem sichereren Ort im Katastrophenfall für alle offen. Auch fürs Geschäft wird der neue Weg fleissig genutzt – hoch mit Matratzen oder Essen beladene Töffli tuckern durch die schwüle Hitze, ein Lautsprecher verkündet, was es zu kaufen gibt. Als Le Anh Hongs Schwiegertochter und ihr Enkel auftauchen, gibts von den dreien mit Mujinga ein paar Erinnerungsfotos. Mit Händen und Füssen verständigen sich die Einheimischen mit der sympathischen Schweizerin.
Der Sprint-Star zeigt keinerlei Berührungsängste
Mujinga trinkt den Kaffee, ohne zu zögern, wie die Vietnamesen mit Eis und probiert alles. Und bringt sich mit ihrer unbekümmerten Art noch in Verlegenheit. Einen gebratenen Fisch dreht sie im Pfännchen kurzerhand um, weil sie das Fleisch von der anderen Seite von den Gräten lösen will. Was sie nicht weiss: In Vietnam bedeutet das, dass draussen auf dem Meer ein Fischerboot kentert. Kambundji erschrickt, als die Dolmetscherin sie schmunzelnd über die tiefere symbolische Bedeutung des gedrehten Fisches aufklärt.
Von der sprachgewandten Begleiterin hat die Bernerin auch viel über vietnamesische Astrologie und den Glauben an Geister erfahren. Der strahlenden Mujinga, die sich hier wie beim Limetten-Spiel überall einbringt und Anteil nimmt, können die Vietnamesen ganz sicher nicht böse sein.