Mit Wind kennt Muriel Lienau sich aus. Sie wuchs an der französischen Atlantikküste auf und wohnt nun am Genfersee, wo im Winter «la bise» weht. Als neue Chefin von Nestlé Schweiz und Mutter von vier Kindern zwischen 17 und 27 bläst es ihr auch sonst ziemlich um den Kopf. «Viele fragen mich, wie die beiden Dinge zusammengehen», sagt sie bei unserem Treffen am Hauptsitz von Nestlé Schweiz in Vevey VD. Die Antwort auf diese Frage hat für die 53-jährige Französin nicht nur mit äusseren Umständen zu tun, sondern auch mit ihr selbst.
Ihre Kindheit verbrachte Muriel Lienau in La Rochelle, nördlich von Bordeaux. «Mein Vater war Arzt, meine Mutter Hausfrau.» Mit 17 zieht sie nach Paris, um Betriebswirtschaft zu studieren. Während eines Austauschjahres in Berlin verliess sie sich in einen Deutschen. «Gemeinsam zogen wir nach England, sozusagen auf neutralen Boden!», sagt sie in fliessendem Deutsch. Lienau übernimmt eine Marketing-Stelle bei der Kosme-tikfirma Revlon. Doch die Arbeit ihres Mannes in der Finanzbranche bringt das Paar nach Frankfurt, wo die Familie fortan 16 Jahre lang lebt.
Jonglieren zwischen Familie und Beruf
In Frankfurt kommen auch ihre vier Kinder Félix, Margaux, Victoire und Adrien zur Welt. Doch ein reines Hausfrauendasein ist für Lienau keine Option. 1991 steigt sie bei Nestlé Deutschland ein. «Mein Mann und ich haben uns gegenseitig bei der Organisation unterstützt», sagt sie. «Das Jonglieren zwischen Familie und Beruf ist nicht immer einfach, aber ich habe gelernt, Prioritäten zu setzen und vorausschauend zu planen.»
Nach der Geburt des zweiten Kindes handelt Lienau mit ihrem damaligen Chef aus, 80 Prozent zu arbeiten. Konkret bedeutet das, dass sie zweimal pro Woche den Arbeitstag um 15 Uhr beenden kann, um ihre Kinder von der Schule abzuholen. Ein schlechtes Gewissen habe sie nie gehabt, sagt Lienau. «In Frankreich sind arbeitende Mütter ganz normal. Aber ich brauchte selber auch die Disziplin, rechtzeitig aus dem Büro zu gehen. Irgendetwas gäbe es immer noch zu tun!»
Zu Hause übt sie das Debattieren
Während sie durch den firmeneigenen Nestlé-Shop führt, zieht es sie in die Dolce-Gusto-Ecke. Muriel Lienau war einst verantwortlich für die Lancierung des Kapselkaffees in Frankreich. Marken seien «wie Kinder», findet sie, «man muss sie pflegen und beschützen». Später leitete sie Vertrieb und Vermarktung des globalen Wassergeschäfts. Keine leichte Aufgabe: Wasser sei ein Grundrecht und keine Ware, sagen Kritiker.
Hatte Lienau keine Mühe damit, diese Sparte zu verteidigen? «Nein, im Gegenteil. Die Schweizer haben ein besonderes Verhältnis zu Wasser», antwortet sie. «Hier ist man sich gewohnt, dass es sauber aus dem Hahn kommt. Aber in vielen anderen Ländern ist das nicht selbstverständlich.» Da brauche es «Alternativen aus der Flasche».
Jeden Tag habe ich mit meinen Kindern Diskussionen!
Den Gegenwind, der das grösste Nahrungsmittelunternehmen der Welt immer wieder beschäftigt, wird auch Muriel Lienau nicht eigenhändig besänftigen können. Immerhin übt sie zu Hause das Debattieren. «Jeden Tag habe ich mit meinen Kindern Diskussionen!» Sie würden ihr oft kritische Fragen stellen. Zwei der vier ernähren sich aus Umweltgründen vegetarisch. Margaux führt ein Restaurant in Genf. Victoire studiert derzeit in den USA. «Per Whatsapp tauschen wir uns über Rezepte und neue Ernährungstrends aus.» Félix, der älteste Sohn, arbeitet in einem Londoner Start-up.
Frauen sollten sich Führungspositionen auch mit Kindern zutrauen
Der 17-jährige Adrien, der als Letzter noch zu Hause wohnt, will Umweltingenieur werden. «Vor Kurzem fragte er mich: Was ist eigentlich dein Beitrag zum Umweltschutz?», erzählt Lienau. «Ich sagte, dass ich bei Nestlé durchaus Einfluss nehmen kann.» Konkret fördere Nestlé in Henniez VD die Biodiversität im Umland der Wasserquelle auf 2400 Hektaren und binde Bauern und Behörden mit ein.
Vorantreiben will Lienau auch das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als Französin, die seit letztem Juli in Lausanne lebt, fällt ihr auf, dass die Schweiz diesbezüglich noch aufholen kann. «Wenn ich in Frankreich bin, sage ich den Frauen: Ihr wisst gar nicht, wie gut ihr es habt!»
Oft braucht es ein ermunterndes Wort, damit Frauen sich was zutrauen
Frauen sollten sich Führungspositionen auch mit Kindern zutrauen, fordert Lienau. «Oft braucht es dazu erst ein ermunterndes Wort.» Sie selbst sei keine Ausnahme. «Ich hatte in meiner Karriere zum Glück Mentoren, die mich immer wieder darin bestärkten, den nächsten Schritt zu gehen.» Nun möchte sie selbst junge Frauen fördern. Sprich: ihnen ein wenig Rückenwind geben.