Der Putz blättert von der Wand, die das kleine Schwimmbad von den engen Gassen des Wohnviertels in El Tablero trennt. Der Stirnseite entlang zieht sich eine gekachelte Bank zum Ablegen der persönlichen Dinge, davor sind ein paar 25-Meter-Bahnen. Mehr gibt es hier nicht. Am Rand absolvieren drei Senioren mit einer Pool-Nudel ihre Wassergymnastik, in der Mitte schwimmt mit ein paar Trainingskollegen eine Olympiasiegerin: Nicola Spirig. Am Rand des Bassins klebt ein Zettel mit den Vorgaben des Trainers.
Schön ist es nicht anzuschauen, wie Spirig durchs Wasser pflügt. Das darf man so schreiben - Spirig selbst benutzt dafür das Wort grauenhaft. «Eine alte Frau hat mir kürzlich empfohlen, einen Schwimmkurs zu besuchen», sagt sie amüsiert. Doch das Grauen ist gewollt. Als 17-Jährige war Nicola Spirig bereits Junioren-Europameisterin im Triathlon, als 32-Jährige hat sie ihren Schwimmstil komplett umgestellt. Weil die Bilderbuchtechnik, die man als Kind lernt, zwar schön und über 50 Meter auch schnell ist, aber nicht über 1500 Meter im offenen Gewässer mit Wellen und ellbögelnden Konkurrentinnen.
Bewegungsmuster zu ändern, die längst automatisiert sind, ist eine einschneidende und Zeit raubende Sache. Sie setzt Mut, Selbstvertrauen und die Lust voraus, Neues auszuprobieren. Also genau jene Eigenschaften, die Spirig in der jetzigen Phase ihres Sportlerinnenlebens auszeichnen. Ihr grösstes Karriereziel - Olympiagold - hat sie 2012 in London erreicht. Alles, was kommt, ist für sie Zugabe. Das gibt ihr die Freiheit, Grenzen auszuloten, andere Wege auszuprobieren und vor allem zu geniessen. Zumal der Zugang zum Sport ohnehin ein anderer sein muss als all die Jahre davor. Mit einem zweijährigen Sohn läuft alles ein bisschen anders als früher.
Es ist Februar, als Spirig für knapp drei Wochen nach Gran Canaria reist, um unter Traumbedingungen zu trainieren: 25 Grad und kaum ein Tropfen Regen. Im Südwesten der drittgrössten Kanarischen Insel hat sie mit Mann Reto Hug und Sohn Yannis ein kleines Apartment in einem grossen Hotel gemietet. Das Rennvelo steht im Flur, ein Dutzend Sportschuhe stapelt sich neben Kinderspielzeug - mit wie viel Gepäck die Familie reist, «das willst du gar nicht wissen», sagt Spirig lachend. Yannis ist mit seinem Papa auf dem Spielplatz im Park. Und da auch die Zürcherin für heute mit dem Training fertig ist, schauen sich die drei in den Dünen von Maspalomas den Sonnenuntergang an.
Yannis will unbedingt alle drei Lieblings-Stofftiere dabeihaben, zwei schaffen es in den Rucksack, der Teddy in seine Arme. Der Zweijährige ist ein aufgestellter Kerl, er tollt im Sand herum - und strahlt immer wieder in die Kamera. «Wir sind mit der momentanen Lösung sehr privilegiert», hält Spirig fest. «Ich habe das Glück, viel Zeit mit der Familie zu verbringen und trotzdem meine Leidenschaft als Beruf ausüben zu können.» Auch ihr Mann Reto Hug war ein Weltklasse-Triathlet. Nach seinem Rücktritt 2012 arbeitete er als Sportchef bei Swiss Triathlon, doch das stellte die Familie organisatorisch vor Probleme. Letztes Jahr hat er seinen Job aufgegeben, schätzt nun die viele Zeit mit Yannis und kümmert sich zudem um den «Nicola Spirig Kids Cup».
Während es zahlreiche Athleten gibt, die Väter sind, ist ein Kind bei einer Sportlerin in den meisten Fällen gleichbedeutend mit dem Karriereende. Auch für Spirig war es eine Option, nach der Schwangerschaft aufzuhören - zu viel liess sich nicht voraussehen. «Für mich waren die Olympischen Spiele wie der Abschluss eines Abschnitts. Es wäre okay gewesen, hätte ich die Karriere dann beenden müssen.»
VON AKRIBISCH ZU FLEXIBEL
Doch der Körper macht nach wie vor mit, Yannis ist unkompliziert, und die Familien-Organisation zwischen Eltern, Grosseltern und Krippe klappt - und so startete Spirig mit neuen Ambitionen und Ideen in die neue Lebensphase. 2014 bestritt sie Wettkämpfe zwischen 15 Minuten und 9 Stunden 15 Minuten: Sie lief ihren ersten Marathon, wurde für die Leichtathletik-EM in Zürich selektioniert, brachte im Vorbeigehen die Schweizer Meistertitel über 5000 und 10'0000 Meter nach Hause, wurde zum vierten Mal Triathlon-Europameisterin und versuchte sich zum Schluss der Saison auch noch in der Langdistanz - ihrem ersten Ironman, den sie gewann. «Die Saison war extrem spannend, ich habe so viele neue Erfahrungen gemacht», blickt sie auf das verrückte Jahr zurück. In der Saison, die sie am 25. April in Kapstadt startet, ist die Heim-EM in Genf ein Highlight, sonst steht die Olympiaqualifikation im Vordergrund. Gewinnt Spirig die ersten European Games im Juni in Baku, Aserbaidschan, ist sie direkt für Rio 2016 qualifiziert - es wäre der einfachste Weg. Und ein komplett anderer als vor vier Jahren, als sie kurz vor den Spielen in London stand.
Damals hat sie sich «unglaublich seriös» vorbereitet. Alles war akribisch geplant, schon drei Jahre vor dem Wettkampf besichtigte sie die Strecke in London, kannte sie inund auswendig. Alles wurde dem Ziel Olympiasieg untergeordnet, das Leben zwischen Jurastudium und Spitzensport penibel, fast verbissen geplant. Und heute? «Natürlich probiere ich alles, um top vorbereitet zu sein. Aber eben auf eine ganz andere Art. Ich muss es mit einer gewissen Lockerheit machen.» Nicola Spirig und Lockerheit - das passte früher nicht wirklich in einen Satz. «Das musste ich lernen. Ich bin jemand, der gerne plant», gibt sie zu. «Aber mit der Familie ändern sich die Prioritäten. Ist Yannis krank, fällt das Training aus.»
Konkret heisst das nicht nur, dass statt Beine hochlegen Büchlein vorlesen angesagt ist, sondern dass sie weniger und kürzer trainiert. Waren früher täglich drei Trainingseinheiten in Stein gemeisselt, sind es heute auch mal nur zwei, oder sie kombiniert sie, um die Zeit von Umziehen und Duschen zu sparen. Mit den Verpflichtungen und Terminen, die seit ihrem Olympiasieg ständig in den Tagesablauf zu integrieren sind, läge mehr nicht drin. Erfahrung und Talent soll dieses Defizit sowie jenes an Erholung aber aufwiegen. Und die Doppelbelastung hat natürlich auch Vorteile: Studierte sie früher tagelang an Gründen für ein schlechtes Training herum, relativiert sich heute vieles, sobald Yannis sie anlacht.
Dass das Fotofinish damals in London für sie und gegen die Schwedin Lisa Nordén ausfiel, macht «einen riesigen Unterschied» - das war sich Spirig damals hinter der Ziellinie bewusst und ist es auch heute noch. «Vorher war ich eine gute Triathletin - seither bin ich Olympiasiegerin.» Welchen Seltenheitswert der Triumph hatte, verdeutlicht die Statistik: In der olympischen Geschichte gab es vor ihr erst drei Schweizer Siegerinnen im Sommer - 1900 die Seglerin Hélène de Pourtalès, die erste Olympiasiegerin überhaupt, 1976 Dressurreiterin Christine Stückelberger und 2000 Spirigs Sportarten-Kollegin Brigitte McMahon. Ihr sportlicher Erfolg bringt interessante Verträge, die kleine Familie kann im Moment gut vom Sport leben.
VERRÜCKTER ALS DER IRONMAN
Die letzte Saison mit Abstechern quer durch Disziplinen und Sportarten hat bei Spirig noch mehr Lust ausgelöst. Die Ironman-Distanz (3.86 km schwimmen, 180.2 km Rad fahren, 42.195 km laufen) findet sie zwar spannend, «es war aber nicht wie eine Erleuchtung». Mit ihren olympischen Ambitionen liesse sich das momentan auch gar nicht vereinbaren. Aber natürlich: Trotz aller Veränderungen bleibt Nicola Spirig Nicola Spirig; der Vergleich mit den Besten reizt sie auch dort. Sie spekuliert darauf, das Thema Langdistanz vielleicht nach Rio in Angriff zu nehmen. Das heisst, der Ironman auf Hawaii - die inoffizielle WM - ist in diesem Jahr höchstens aus Erfahrungsgründen ein Thema. Sicher aber nicht, um für den Sieg mitzuschwimmenfahrenlaufen. «Dafür bräuchte ich viel mehr Meilen, viel mehr Radkilometer und drei bis vier Ironman-Wettkämpfe.» Reizen würde sie ein spezieller, verrückter Wettkampf. Zum Beispiel den «Embrunman» über die Ironmandistanz in Frankreich, auf dessen Radstrecke auch noch 5000 Höhenmeter zu überwinden sind. «Den muss man nicht kennen, und für viele ist der Sinn vielleicht auch nicht ganz ersichtlich. Aber ich finde solche Sachen spannend», sagt sie.
Ihr Glück, dass sie von Brett Sutton trainiert wird, dem Australier, dem ebenfalls allerlei verrückte Dinge nachgesagt werden. Der aber auch der Triathlon-Trainer mit dem grössten Leistungsausweis ist. Da kann es vorkommen, dass Spirig einen Marathon auf der Bahn laufen muss - als Intervalltraining, angefangen mit 20 mal 200 Meter, gefolgt von 40 mal 400 Meter und so weiter. Die beiden sind völlig unterschiedliche Typen - Sutton der Autoritäre, Spirig die Hinterfragende, die sich weigert, ein Training zu absolvieren, bei dem sie den Sinn nicht einsieht. «Aber es scheint zu funktionieren», lacht sie. Funktionieren tut auch das Familienleben. Reto Hug und Yannis sind so oft wie möglich dabei, wenn Spirig im Trainingslager weilt, ob nun in St. Moritz oder in Gran Canaria. Ein bisschen wie bei den Federers. Ohne vier Kinder und all die Nannys natürlich. Doch immerhin mit Velo, einem Dutzend Sportschuhen und so vielen von Yannis' Plüschtieren, wie noch in den Koffer passen.