Der weiss uniformierte Stormtrooper aus «Star Wars» passt zu Nicolas Huber, 23. Auf dem Snowboard stürmte der Freestyler mit Slopestyle-Silber an der WM vergangene Saison in ganz neue Sphären. Zwar nicht wie Darth Vaders galaktische Armee mit Blastergewehren bewaffnet, dafür mit sportlichem Talent, Selbstvertrauen, unbändiger Energie, Humor und Kreativität. Und seine Ideen sind manchmal echt abgespaced.
Überzeugen kann man sich davon beim SI-Sport-Fotoshooting sowie auf seinem Instagram-Profil. Unter dem Pseudonym «Der Nudist» zeigt er sich – wie könnte es anders sein? – nackt. Im Schnee, in der Badewanne oder über ein Feld rennend. «Ich bin stolz auf meinen Körper. Ich finde, jeder sollte das sein – egal ob mit Sixpack oder mit Bierbauch.» Neben den nackten Tatsachen postet er auch mal Interviews mit Teamkollegen – mit Gurke statt Mikrofon –, trägt Leggins mit Leoparden-Muster oder begräbt in einer dramatischen Zeremonie sein Snowboard im Schneesturm.
Er zeigt auch Mut zur Hässlichkeit. Etwa mit einer Grossaufnahme eines Eiter-Pickels oder der Nachahmung von Gollum, der fürchterlichen Kreatur aus «Herr der Ringe». Das Haar trägt er mal pink, mal kurz, mal lang, mal halbseitig oder ganz rasiert. Mal spielt er einen Nerd mit Socken in Sandalen, Trainerhose und Pelzmantel, ein anderes Mal ahmt er einen alten Mann nach, mit Hornbrille und mit gerunzelter Stirn. Mit einigen Kollegen teilt er gar einen Kleiderschrank mit verschiedenen Kostümen.
Die Outfits stammen teils von ungewöhnlichen Orten: Ein Clownkostüm aus Kanada oder drei Patientenkittel, die er von einem seiner Aufenthalte im Spital – er brach sich zweimal das Schlüsselbein – mitgenommen hatte. «Ich bin ein bisschen ein Freak. Ich liebe es, mich zu verkleiden und in andere Rollen zu schlüpfen.» Doch es seien eben nur dies, Rollen. «Viele sind überrascht, wenn sie mich kennenlernen und sagen: ‹Hey, du bist ja gar nicht immer so crazy!› Ich habe viele Facetten.»
«Ich bin zum ersten Mal so richtig verliebt»
Das bestätigt Nicolas Huber im Gespräch. Da wirkt er im Vergleich zu seiner Online-Persönlichkeit geradezu normal. Mal etwas lauter und gestikulierend, aber auch öfters nachdenklich. Er schaut einem direkt in die Augen und antwortet präzis auf jede Frage. Wenn Huber über seine Freundin, die russische Snowboarderin Sonia Fedorowa, spricht, glänzen seine Augen, und er wirkt fast ein bisschen verzaubert.
«Ich bin zum ersten Mal so richtig verliebt. Ich wusste nicht, dass man jemanden so begehren kann.» Deswegen sind ihm heute andere Dinge wichtiger als früher. «Damals habe ich oft exzessive Partys gefeiert, das brauche ich heute nicht mehr.» Das kommt ihm im Sport zugute.
«Diese Medaille ermöglicht mir nun, den Traum vom Snowboarden zu verwirklichen»
Nicolas Hubers Snowboard-Karriere ist so unkonventionell wie sein Auftritt auf Instagram. Das zeigt allein schon sein überraschender, kometenhafter Aufstieg im vergangenen März, als er an der WM in der Sierra Nevada im März Silber gewann. Mit nur einem Weltcupstart im Palmarès und ohne je in einem Kader von Swiss-Ski gewesen zu sein. Während eine Medaille an einer WM bei vielen Sportlern das Ende eines langen Weges ist, ist sie bei Nicolas Huber erst der Anfang der Karriere.
«Vorher wusste ich lange nicht, ob ich überhaupt weitermachen soll. Diese Medaille ermöglicht mir nun, den Traum vom Snowboarden zu verwirklichen.» Denn nach dem Erfolg wird er ins Nationalkader aufgenommen und finanziell, im Training und bei der Planung unterstützt.
Der Zürcher, in Männedorf am rechten Zürichseeufer aufgewachsen, steht bereits auf den Ski, kurz nachdem er laufen kann. Die Familie macht jedes Jahr Ferien in St. Moritz, am «Babyhügel» am Corvatsch lernt Huber Ski fahren, später, mit 12, steigt er aufs Brett um. Daneben spielt er Tennis, bestreitet Turniere. Die Hubers sind eine Tennis-Familie, doch Nicolas hat anderes im Sinn. Snowboarden hat ihn fasziniert wie keine Sportart zuvor. «Auf dem Board spüre ich die absolute Freiheit, und ich kann mit den verschiedenen Tricks meine Kreativität ausleben.»
«Kamikaze-Style»
Huber macht schnell Fortschritte. Und das, obwohl er nie in einem Klub, einer Trainingsgruppe oder einem Kader ist. Einen Trainer? Hat er nicht. Huber coacht sich selber. «Kamikaze-Style. Wenn ich zurückschaue, würde ich nicht mehr mit dem gleichen Können das gleiche wagen. Das war ganz schön riskant. Aber genau diese Risikobereitschaft und der Glaube, einfach alles zu können, haben mich weit gebracht.»
Voll auf den Sport zu setzen und ein Sportinternat in den Bergen zu besuchen, kommt für den Flachländer und vor allem für dessen Eltern nie infrage. So geht er unter der Woche in die Atelierschule, die Mittelschule der Rudolf-Steiner-Schule in Zürich, mit Schwerpunkt in Musik, Tanz und Theater. Unter der Woche lebt er so die Leidenschaft für die Schauspielerei und seine kreative Energie aus und am Wochenende den Bewegungsdrang. Samstags Training, dann Ausgang, sonntags lernen. Wochenende für Wochenende.
Nach der Matura bereist er mit einem Freund für drei Monate Brasilien. Um zu kitesurfen, aus dem Alltag auszubrechen und Neues zu erleben. Und auch ein bisschen, um die Entscheidung um seine Zukunft noch ein wenig hinauszuschieben. Als Andenken nimmt er eine besondere Erinnerung mit. Eine Tätowierung des Gesichts seines besten Freundes – auf seinem Hinterteil.
Parkshaper statt Ökonom
Hubers lockere und extrovertierte Art könnten leicht darüber hinwegtäuschen, wie hart er für seinen Traum vom Snowboarden gearbeitet hat und immer noch arbeitet. Während der Gymizeit verdient er nebenbei Geld mit einem eigenen Wurststand, nach der Matura macht er Promotionsarbeiten für Organisationen wie Pro Natura. «Auf Provision bezahlt. Und ich bin ein sehr guter Verkäufer. Ich habe sogar Preise gewonnen.»
Auf Druck der Eltern schreibt er sich für ein Wirtschaftsstudium an der Uni Zürich ein. Er besucht zwei Vorlesungen, bricht die Übung ab und geht zurück in die Berge. Seine Eltern unterstützen ihn. Auch wenn es nicht der Weg war, den sie sich für ihn vorstellten. «Sie verstehen vom Snowboarden etwa so viel, wie wenn ich ihnen Arabisch vorlesen würde.»
Statt Ökonom wird Huber Parkshaper auf dem Corvatsch. Daneben übt er unermüdlich. «Ich war 15 Stunden am Tag auf dem Berg, ich habe gearbeitet und in den Pausen und danach trainiert.» Mit 19 macht er den ersten Double-Cork. Die waghalsigen Sprünge erfüllen ihn, doch er spürt nach wie vor das Bedürfnis, sich auch neben dem Schnee kreativ auszudrücken. Während er das früher in den Tanz- und Theaterstunden in der Schule tat, lebt er diesen Drang ab jetzt auf Social Media aus.
«Unglaubliche Energie»
Heute ist Huber Snowboard-Profi und Teil der Slopestyle-Nationalmannschaft. «Nun muss ich mich nicht mehr dauernd rechtfertigen für das, was ich tue.» Damit spricht er Personen in seinem Umfeld und in der Snowboard-Szene an, die ihm diesen Schritt nicht zugetraut hatten. «Viele sagten, ‹Du bist doch viel zu alt, mach doch mal etwas Richtiges›.»
Nun bereitet er sich voller Tatendrang und seriös wie nie auf die Olympischen Spiele vor. Zum ersten Mal hat er im Sommer ein sauberes Kraftaufbautraining absolviert. Mit dem neuen – ersten – Trainer Dani Wieser hat er an der Technik gearbeitet. «Als Quereinsteiger haben sich bei ihm in der Basis kleine Fehler eingeschlichen, etwa beim Absprung am Kicker. Er muss mehr Beinarbeit leisten», erklärt Wieser.
Huber sagt, er wolle Kritik und könne gut damit umgehen. Diese Aussage deckt sich mit dem Eindruck des Coaches: «Er hat sich sehr gut ins Team integriert, gibt sich immer Mühe, ist motiviert und hört gut zu.» Huber müsse aber daran arbeiten, seine «unglaubliche Energie» besser einzuteilen.
Einiges bleibt beim Alten
In Nicolas Hubers Leben ist in dieser Saison also vieles neu. Einiges bleibt jedoch beim Alten: Auch wenn er auf seinem Instagram-Profil zuletzt vor allem Snowboard-Bilder und -Videos gepostet hat, wird er auch neben den Trainings, Reisen und Wettkämpfen noch Zeit für Rollentausch und verrückte Videos finden.
Seine Nebenrollen gehören genauso zu ihm wie die Hauptrolle auf Schnee. Welche Kostüme er neben der offiziellen Schweizer Teambekleidung für Südkorea wohl noch in den Koffer packt? Eines ist sicher: Wie an der letztjährigen WM könnte Nicolas Huber auch auf der olympischen Bühne alle überraschen – auf und neben dem Slopestyle-Parcours.
Diese Geschichte erschien im Magazin «SI Sport», Ausgabe 1/2018 vom 9. Februar 2018