Es ist kurz vor Mittag. Die dunklen Wolken haben sich verzogen, der Geruch feuchter Erde liegt in der Luft. Oliver Zaugg sitzt auf einer Wiese, nur das Vogelgezwitscher durchbricht die Stille. Der ehemalige Rennvelo-Profi hält inne. Nicht weil er bereits eine Pause braucht nach dem 1000-Höhenmeter-Aufstieg auf der Asphaltstrasse, die sich von Locarno auf die Alp Cardada durch den Wald hinaufschlängelt. Sondern, um die dunstige – aber nicht minder schöne – Aussicht auf den Lago Maggiore zu geniessen. «Wunderbar beruhigend, dieser See-Blick», sagt Zaugg berührt, auch wenn er schon oft hier war.
Der Zürcher Oberländer aus Pfäffikon lebt seit 12 Jahren im Tessin. Als er 2006 für das Team Saunier Duval mit dem Tessiner Manager Mauro Gianetti fuhr, zogen ihn die idealen Trainingsbedingungen – eine längere Radsaison dank höheren Temperaturen – in den Süden. Geblieben ist er, weil er eine Tessinerin kennenlernte und heiratete. Zusammen haben sie eine mittlerweile neunjährige Tochter.
Seiner Zürcher Heimat hat Zaugg den Rücken gekehrt, seiner Passion ist er aber auch nach seinem Rücktritt vom Profiradsport 2016 treu geblieben: Seit einem Jahr führt er das Geschäft «Infinito Sport» in Losone, begleitet Mountainbike-Touren und gibt Technik-Kurse an der Swiss Bike School. Auf dem Rennvelo sitzt er auch noch ab und zu. «Lieber verbringe ich die Zeit aber mitten in der Natur, das ist der Vorteil beim Biken.» So wie heute auf dem Rundweg Locarno – Alp Cardada – Val Resa – Brione – Orselina – Locarno.
Nach kurzem Halt in Monteggia folgt das letzte Stück Anstieg. Technisch ist die Passage einfach, doch sie erfordert gute Kondition. «Das war früher mein Testberg.» In 20 Minuten ist er in den besten Zeiten hochgefahren. Heute ist die Geschwindigkeit zweitrangig. Eine Mittagspause am höchsten Punkt vor dem Restaurant Capanna lo Stallone auf 1486 m ü. M. liegt drin. Hier trifft er auf andere Biker und auf Wanderer, die das Gebiet mit der Standseilbahn Locarno–Orselina, der Drahtseilbahn Orselina– Cardada und einem kurzem Fussmarsch erreicht haben.
Ein letzter Blick über Locarno und Ascona, und weiter gehts auf die steile Abfahrt. Auf Waldwegen und steinigen Trails zeigt Zaugg seine technischen Fertigkeiten – mal einen Sprung, mal einen Drift nach enger Kurve. Seit der Kindheit fährt er MTB, «und in der Zeit bei Tinkoff-Saxo lernte ich einige Tricks von Peter Sagan – cool!» Nun gibt Zaugg selbst technische Tipps: «Ellbogen raus, Sattel senken, Gewicht nach hinten verlagern und das Risiko dem Gelände anpassen!» Er meint damit: Die Singletrail-Passage ist besser ausgebaut als in den letzten Jahren, erfordert aber trotzdem höchste Konzentration.
Nach den 12 Kilometern durch dichten Wald tut die Ankunft in den Gässchen des kleinen Örtchens Brione sopra Minusio wohl. Am Tour-Ende heisst es: Ausatmen und die Sonnenstrahlen geniessen – in der Ferne ziehen Gewitterwolken auf. Zaugg lässt den Tag bei einem Gelato am See ausklingen. Kalorienzählen war gestern. Radfahren jedoch ist noch immer ein Teil seines Lebens. Seiner Tochter hat er gerade ihr erstes Mountainbike geschenkt. Bald folgt die erste Familientour – die Region bietet das Passende.