Sagt jemand Roger Federer, sind es keine brillanten Schläge oder emotionalen Siege, an die ich mich erinnere. Vielmehr wird mir bewusst, in wie viele Lebenssituationen er sich einschleicht, wie oft ein Erlebnis mit ihm verknüpft ist, schlicht, wie allgegenwärtig er ist. Wenn man als fast Gleichaltrige im selben Ort – Münchenstein BL – aufwächst, er einem schon als Elfjährige ein Begriff war und man beruflich mit Sport verbunden ist, wächst das Leben parallel zu Federers Karriere. Darum 20 Episoden, bei denen Federer eine kleinere oder grössere Rolle spielt.
1 - Australien, Januar 2005. Seit ein paar Monaten lebe ich an der Gold Coast, arbeite in einem Café und sehe mir mit zwei Arbeitskolleginnen Federers Halbfinal gegen Marat Safin an. Federer verliert, und wir beschliessen, dass wir noch einen Drink gegen den Frust brauchen. In einer Bar feiern ein paar Einheimische einen Polterabend. Weshalb ich das noch weiss? Eine meiner Kolleginnen, die Tschechin Monika, lernt dort ihren künftigen Ehemann und Vater ihrer Kinder kennen. Eine Federer-Niederlage kann auch ihr Gutes haben.
2 - Alle tuscheln im Lärchenschulhaus Münchenstein. Es passiert nicht alle Tage, dass ein Schüler nach der 7. Klasse die Sekundarschule abbricht, um voll auf den Sport zu setzen. Fortan lebt Federer bei Swiss Tennis in Ecublens VD. Da Roger schon als 13-Jähriger regelmässig in der «Basler Zeitung» erwähnt wird, wachse ich mit dem Selbstverständnis auf: Roger Federer gleich Erfolg.
3 - Allschwil BL, Oktober 2012. Eines Morgens vor den Swiss Indoors ruft mich mein Chef bei der «Basler Zeitung» an und sagt: «Ich weiss, wo Roger heute trainiert. Geh und schreibe auf, wie viele Bälle er schlägt.» Man muss in der Federer-Berichterstattung langsam etwas erfinderisch sein. Coach Severin Lüthi hat mir erlaubt, in der Halle zu sitzen, und ich frage mich, ob sich Roger fragt, was da eine Journalistin 100 Minuten lang in ihr Notizbuch kritzelt. Ich sitze also da, komme mir ein bisschen blöd und zugleich ein bisschen privilegiert vor und mache Strichlein. Die Auflösung? 807 Schläge – 431 mit der Vorhand, 323 mit der Rückhand, 51 Aufschläge und je einen unter dem Bein hindurch und rückwärts.
4 - Juli 2014, Jungfraujoch. Federer eröffnet für seinen Sponsor Lindt ein Geschäft auf dem Jungfraujoch auf 3454 Metern Höhe. Vor dem Termin stehe ich im Laden, und es ist wie überall, wo der Maestro erwartet wird: Es liegt eine seltsame Spannung in der Luft, es ist ein andächtiges Warten. Nach seinem Besuch dort wird er für ein Plauschmatch gegen Lindsey Vonn durch die Gänge der Bergstation geleitet – völlig unbemerkt von den Tausenden asiatischen Touristen, die schlicht nicht erwarten, dass Federer gerade an ihnen vorbeischlendert. Wenn die wüssten...
5 - Oktober 2010, Basel, Swiss Indoors. Interview-Termin mit Roger. Geblieben ist mir bloss der Einstieg: Wie Federer die Hälfte unserer 20 Minuten mit meinem Arbeitskollegen plaudert, der ebenfalls gerade Vater von Zwillingen geworden ist. «Kannst du sie auseinanderhalten? Läuft auch immer eins davon?» Als wir nervös auf die Uhr gucken, winkt er entspannt ab: «Kein Problem, ich habe Zeit.» Als Journalisten der «Basler Zeitung» hatten wir jeweils einen kleinen Heimvorteil. Die Extraminuten nahmen wir immer dankend an.
6 - Dezember 2014, CS Sports Awards. In den Zürcher Katakomben des Schweizer Fernsehens herrscht Aufregung, weil Roger Federer da ist. «Mir ist es so peinlich, dass ich hier stehe wie ein Groupie», sagt mir Olympiasiegerin Dominique Gisin, bevor Federer kommt, sie herzlich begrüsst und mit ihr für ein Handy-Bild posiert. «Ich hoffe, er verzeiht es mir.» Die Engelbergerin wird an diesem Abend Sportlerin des Jahres – ihre wahre Trophäe aber ist das Selfie.
7 - Dezember 2015. Ich klingle bei Lynette Federer zu Hause, um den Wanderpokal des «Basler Sportler des Jahres» für die neue Gravur abzuholen. «Ihr wisst schon, dass er nicht beleidigt wäre, wenn ihr ihn nicht jedes Jahr wählen würdet?», versichert Lynette. Drei Wochen danach nimmt sie an der Gala in der Kleinen St. Jakobshalle für ihren Sohn, der in Australien weilt, den Pokal entgegen. Nach der starken Laudatio des Baselbieter Eishockeytrainers Kevin Schläpfer sagt sie: «Ich staune, welch neue wunderbare Dinge die Menschen jedes Jahr finden, um Roger zu ehren.»
8 - Jedes Jahr im November. Sitzung des Vorstands der Basler Sportjournalisten. Seit 1999 hat Federer bloss dreimal den Preis als Basler Sportler des Jahres nicht abgeräumt. Jedes Jahr führen wir vor der Wahl dieselbe Diskussion: Können, dürfen wir Federer nicht wählen? Oder schaden wir dem Basler Sport, wenn wir anderen guten Sportlern die Auszeichnung vorenthalten? Federer ist im selben Zwiespalt: «Es freut mich, dass ich in der Heimat geehrt werde. Aber es tut mir auch leid für die anderen Sportler, die etwas Schönes erreicht haben.» Im Wahlgremium kommen wir aber meist zum selben Schluss: Wir sollten uns glücklich schätzen, einen solchen Sportler küren zu können. Also tun wir es auch. Wenn nötig auch zum 17. Mal.
9 - Wieder Australian Open, diesmal 2009. Ich bin auf Hawaii und will mir den Final Federer - Nadal ansehen. An Bars mangelt es in Waikiki nicht. An Bars, die am Abend vor dem Super Bowl Tennis zeigen wollen, schon. Der Besitzer einer Sportbar erbarmt sich und schaltet einen von zwölf Bildschirmen um. Als das Lokal um Mitternacht schliesst, sind erst zwei Sätze gespielt. Glücklicherweise ist mein Tischnachbar Pilot und kennt wegen des Jetlags jede Bar in Waikiki, die durchgehend offen hat. Wir landen also in einer Hotelbar, in der tatsächlich jemand Tennis schaut – Nadal-Fans! Wir fiebern mit, trinken, und als Nadal kurz vor 3.30 Uhr in der Früh als Sieger feststeht, spendiert der Kellner eine Runde Pancakes für alle.
10 - Ist Federer nun ein Basler oder Baselbieter? Immer wieder diskutieren wir in der Redaktion darüber. Sind die ersten Lebensjahre prägender oder die Jugend? Eine Frage, die mich als Journalistin umtreibt. Ein Detail? Sicher nicht in unseren beiden Halbkantonen! Roger selbst löst es elegant: Er sagt, er fühle sich der Region zugehörig.
11 - Wimbledon 2007. Die Tour de France startet in London, ich schreibe. Am Samstag gewinnt Fabian Cancellara den Prolog, und plötzlich zaubert ein Journalisten-Kollege Tickets für den Wimbledon-Final am Tag darauf hervor: Federer - Nadal. Eine unerwartete Grand-Slam-Premiere für mich und ein eindrückliches, fünf Sätze langes Auf und Ab – für diese Unberechenbarkeit liebe ich das Tennis. Federer gewinnt, und meine Cancellara-Story wandert zwei Seiten nach hinten.
12 - Wir FCB-Fans sind nicht gerade euphorisch, was alles andere als den FCB betrifft. Eine grosse Show oder prominente Stadiongäste interessieren uns nicht. Im Juni 2017 ist das anders: Dass Roger Federer Präsident Bernhard Heusler auf dem Rasen verabschiedet, ist das Tüpfelchen auf dem i. Als Roger-Sprechchöre der Fans Federers Rede unterbrechen, sagt dieser: «Danke, aber dieser Moment gehört Bernie.» So bescheiden – grosse Klasse. Auch wenn der Weltstar die Fussballer in der Kabine besucht, freut er sich genauso, sie kennenzulernen, wie umgekehrt. Höchste Zeit, dass Federer nun mit dem FCB gleichgezogen hat: Dem 20. Meistertitel der Basler hat er seinen 20. Grand-Slam-Titel folgen lassen.
13 - Offiziell gibt es nur in Biel eine Roger-Federer-Allee. Nach den erfolgreichen Olympischen Spielen 2000 gabs jedoch mal ein inoffizielles Strassenschild in Münchenstein, an jener Ecke, wo Federer in der Reihenhaus-Siedlung Wasserhaus lebte. Weshalb das Schild plötzlich weg war, weiss niemand. Man munkelt, es sei ein Schulbubenstreich gewesen. Ist es der Neid gegenüber dem plötzlich erfolgreichen Jungen aus der Nachbarschaft? Simpel jedenfalls ist der Grund, weshalb in Basel noch nichts nach ihm benannt ist: Die Stadt ehrt nur Verstorbene mit Strassennamen.
14 - «Der gewinnt doch nichts mehr. Seine Zeit ist vorbei.» Es ist weniger mein Tennis-Sachverstand, der sich vehement gegen solche Aussagen wehrt, vor allem auf der Redaktion in Zürich. Gerade als Baselbieterin habe ich stets an seine Fähigkeit, zu gewinnen, geglaubt. Umso schöner die Genugtuung im vergangenen Jahr: Federer ist wieder da!
15 - Es ist September 2000, als ich mich trotz Gymnasium für zwei Wochen auf dem Sofa einquartiere. Die Olympischen Spiele in Sydney zwingen mich, nachts Sport zu schauen, und so schlafe ich so nah wie möglich beim Fernseher. Besonders gerne stelle ich den Wecker morgens um 3 Uhr für den 19-jährigen Federer. Augen auf, Fernbedienung gedrückt, mitgefiebert. So nah ist er an der sensationellen Medaille dran, verliert dann aber den Halbfinal und das Spiel um Bronze. Immerhin: Nicht nur ist Sydney der Beginn von Mirkas und Rogers Liebesgeschichte. Sondern auch jener des Schweizer Sportpublikums mit Federer. Denn spätestens jetzt kennen nicht nur Münchensteiner seinen Namen.
16 - Januar 2012, St. Moritz. Pressekonferenz der Weltcup-Rennen. Nie habe ich Lindsey Vonn so präsent und doch so abwesend gesehen. Sie dreht sich immer wieder um und starrt auf den kleinen Fernseher im Presseraum. Eigentlich sollte sie Fragen zu ihrem Podestplatz beantworten, aber als selbst ernannter grösster Federer-Fan kann sie sich nicht konzentrieren, während er an den Australian Open spielt. Lindsey Vonn bringt das Frage-Antwort-Spiel so schnell wie möglich hinter sich, um sich wieder ganz dem Match widmen zu können.
17 - Es war zwischen einem Wasserball-Match, dem Gewichtheben und der Rhythmischen Sportgymnastik, als Federer spielt. An den Olympischen Spielen in London 2012 für eine Reportage an verschiedenen Sportstätten unterwegs, will ich mir den Tennis-Halbfinal nicht entgehen lassen. Kompliziert. Den Dreisätzer über 4:26 Stunden und das verrückte 19:17 im letzten Satz sehe ich mir per Handy-Liveticker mit unsäglich teurem Roaming und per hastig aufgestelltem Laptop in drei verschiedenen Pressezentren an.
18 - Münchenstein ist ein typischer Vorort, die meisten Einwohner sind stadtorientiert, den alten Dorfkern findet nur, wer ihn sucht. Praktisch gelegen, aber keine Perle. Als Jugendliche hätte ich es cooler gefunden zu sagen, ich sei aus Basel. Dass Hakan und Murat Yakin sowie Benjamin Huggel international im Fussball brillieren, hilft schon ein bisschen. Endgültig ändert sich die Wahrnehmung aber, als Federer 2003 erstmals Wimbledon gewinnt. Münchenstein rockt!
19 - 2016 ist Roger Federer wieder mal selber an der Basler Fasnacht, mischt sich mit Kappe und «Blaggedde» in die Menge wie jeder andere. Weilt er nicht vor Ort, ist er trotzdem ständig präsent: Er kommt jeweils in zahlreichen Versen auf den «Ladäärne» oder «Zeedel» vor. Hart wirds für Federer aber kaum: Ein Reim über seine Tränen ist noch das Böseste, sonst steht er meist als guter Vergleich da:
«D Schnitzelbänggler dien ungläubig blinzle
Wenn si über e Rodscher wänn e Värsli brinzle
Sie sueche denn nach sine Defäggt Vergääblich – är isch zue perfäggt»
20 - Schokolade, Uhren und Käse als erste Assoziationen zur Schweiz im Ausland? Das war einmal. Heute werde ich beim Reisen weltweit auf Roger Federer und seine Erfolge angesprochen, sobald ich sage, woher ich komme. Jeder scheint ein Fan zu sein. Mit den Worten «From Switzerland, but loved all over the world» bittet ihn am Australian Open 2018 der Platzspeaker zur Siegerehrung – aus der Schweiz, aber in der ganzen Welt geliebt. Wir teilen ihn gerne. Aber für uns Baselbieter und Stadtbasler bleibt er halt trotzdem einfach einer von uns.