Es ist spät in der Nacht, wenn «Roger Monster» und «Fly MC» den Gegnern keine Chance lassen. Die beiden sind Basketballer, von den jugendlichen Roger Federer und Marco Chiudinelli in einem Computerspiel kreiert – eine normale Freitagnacht in Münchenstein. «Wir gingen nicht in Bars oder Klubs und betranken uns», sagt Chiudinelli, heute 36-jährig. «Wir hatten dieses Flair für Videogames.» Stundenlang. Nächtelang.
Federer und Chiudinelli spielen als Kind in verschiedenen Tennisklubs, trainieren aber einmal pro Woche gemeinsam – und werden Freunde. Das typische Wochenende: Freitagabend gehts mit dem 10er-Drämmli zur Heuwaage und dort in einen Spielsalon, 30 Stutz der Eltern im Hosensack.
Nach den ersten zehn Franken flaniert man, wie man es in Basel als Jugendlicher eben tut, durch die Steinenvorstadt, isst im McDonald’s, dann gehts in den nächsten Spielsalon. Ein einstündiger Fussmarsch zurück nach Münchenstein endet um drei Uhr vor Chiudinellis Computer.
Wir haben so viel gemeinsam erlebt, waren so eng
Damals können es sich die Jungs nicht vorstellen, dass sie 20 Jahre später immer noch als Tennisprofis durch die Welt ziehen. Wenn auch Ziele und Art meist nicht die gleichen sind: Federer reist im Privatjet, Chiudinelli gönnt sich erst mit der Zeit für ausgewählte Strecken wie nach Australien die Business-Klasse.
Standing Ovations für Chiudinelli
Für den einen ist diese Zeit nun vorbei, Chiudinelli spielte vor einer Woche an den Swiss Indoors in Basel seine letzte Einzelpartie. Ein emotionaler Abschied mit Standing Ovations an seiner Heimstätte, wo er einst gemeinsam mit Federer Balljunge war und Lösli verkaufte.
Sein Freund umarmt ihn von der Loge aus, streicht ihm über den Kopf, beide haben Tränen in den Augen. «Ich bin ein Fan von dir», sagt der um einen Monat ältere Federer. Auf Chiudinelli, in seiner besten Zeit die Nummer 52 der Welt, wartet nun ein ganz neues Leben, während Federer weiter um Titel und die Nummer 1 kämpft.
Dass beide im Tennisbusiness blieben, erleichterte die Freundschaft. Hier ein gemeinsames Turnier, da ein Training. «Ich bin froh, dass sie gehalten hat, wir haben so viel gemeinsam erlebt, waren so eng», sagt Chiudinelli und spricht von einem «Riesen-Vertrauensverhältnis».
Dass sich ihre Wege nicht gleich entwickelten, damit hadert Chiudinelli nie. Er liebt nicht nur das Tennis und das Siegen, sondern auch dieses Leben, das Reisen, das Neue. Je wichtiger die Turniere im Tennis, desto grösser die Metropolen. Je kleiner die Wettkämpfe, desto abenteuerlicher wird es. Und Chiudinelli saugt dies alles auf, seit er als Kind einen Globus von der Grossmutter bekommen hat.
Turniergewinn vor null Zuschauern
Die erste grosse Reise mit 14 Jahren sind Sommerferien, die in Las Vegas beginnen («Ich war hin und weg»), und er spürt, dass Reisen nach Abenteuer riecht und ihm eine neue Welt eröffnet. Er beginnt zu fotografieren, um sich die Erinnerungen zu erhalten, lässt vier Filme durch, als er zum ersten Mal fürs Tennis im Ausland ist, voll ins kalte Wasser geworfen: Griechenland, vier Wochen, vier Turniere, teilweise 13 Stunden Busfahrt zum nächsten Spielort.
Oder das Turnier in Algerien, als die Spieler in einer Armeebasis zusammen mit bedrohten Journalisten untergebracht waren. Jenes in Abu Dhabi, wo er sein erstes Future-Turnier gewinnt – vor null Zuschauern. «Es war in einer Halle ausserhalb der Stadt und interessierte gar niemanden. Ausser dem Schiedsrichter und uns Spielern war genau ein Journalist vor Ort.»
Da sind auch seine fünf Einsätze in Usbekistan, wo die Spieler vom nächsten Flughafen aus sechs Stunden über Pässe fahren müssen und unterwegs an heimischen Märkten etwas zu essen kaufen. Dort hat er eines seiner Lieblingsbilder aufgenommen, als der Fahrer mitten im Nirgendwo bei einem kleinen, alten Häuschen hält, um zu tanken, eine Szene wie in einem Western. «Davor sass ein Mann mit einem usbekischen Chäppli, er sah aus, als wäre er 100 Jahre alt.» Einmal hat ihm dort eine Familie die Wohnung für fünf Dollar die Nacht überlassen.
58 Länder bereist
Die viele Zeit unterwegs vertreibt er sich oft mit Lesen, politische Bücher von Ulrich Tilgner oder Peter Scholl-Latour über die Länder, die er als Tennisspieler bereist, 58 sinds insgesamt, Hunderte gespeicherte Begegnungen. Und natürlich die Tennis-Highlights. Als er 2009 nach einer weiteren Pause in seiner verletzungsgeplagten Karriere mit einem sensationellen Lauf in etwas mehr als einem Jahr vom Weltranglistenplatz 884 auf 52 prescht.
An den Swiss Indoors schafft er es bis in den Halbfinal gegen Federer, die halbe Stadt fiebert mit ihren Jungs. «Klar sticht das heraus, weil die Story dahinter unglaublich ist», sagt Chiudinelli. «Wir beide am Ort, wo wir früher Balljungen waren, auf dem Center Court, eine volle Halle.» Auch der Davis Cup bietet viele Highlights, der Sieg 2014 natürlich oder die Partie im vergangenen September gegen Weissrussland und den Abstieg, wo Chiudinelli das entscheidende Spiel gewinnt.
«Ich lebte sparsam»
Chiudinelli funktioniert als Ein-Mann-Business, er organisiert alle Reisen selbst, bezahlt Coach und Physio. Zwei Millionen Dollar Preisgeld erspielt er in 18 Jahren, bei Federer sinds 50-mal mehr. «Ich lebte sparsam, hatte aber auch Glück, dass ich nicht schauen musste.» Wenn er den Coach dabei haben will, nimmt er ihn mit. Auch wenn er Anfang Jahr nicht weiss, wie viel er verdienen wird. «Man muss für den Erfolg auch etwas riskieren.»
Seine organisatorischen Fähigkeiten sollen ihm in der Zweitkarriere zugutekommen – nächstes Jahr möchte Marco Chiudinelli den Sportmanagement-Lehrgang an der HSG St. Gallen absolvieren, alles Weitere ist offen. In den vergangenen zwei Jahren lebte er meist bei seiner slowakischen Freundin Ivana in Bratislava, ihre gemeinsame Zukunft sehen sie aber in der Schweiz.
Hier gibt es dann vielleicht mal wieder eine legendäre Nacht von «RF» und «MC» – von denen gabs nämlich noch mehr als die mit endlosen Computer-Sessions in der Jugend. Da war die Nacht im Dezember 2014 nach dem Sieg im Davis Cup und vor dem Match for Africa, als sie gemeinsam mit Michael Lammer einen feucht-fröhlichen Abend voller Erinnerungen verbrachten – und Federer am folgenden Tag leiden musste.
Eine kleine Rache für eine Nacht vor vielen Jahren in Biel, nach der Chiudinelli nach dem gemeinsamen Gamen bis sechs Uhr morgens die Schule verpasste, da Roger ihn schlafen liess – und Marco deshalb gehörig Ärger bekam. Er grinst, während er sich daran erinnert. Es scheint, als wäre noch recht viel von den Lausbuben übrig, die die beiden früher waren.