Der eisige Wind an diesem Tag in St. Moritz ist nicht der Grund, dass Lara Gut gegen die Tränen kämpft. Sie steht im Zielraum des Weltcup-Rennens, bei ihrer Grösse kaum zu sehen von den vielen Journalisten, die sich auf der anderen Seite des Gitters beinahe gegenseitig erdrücken. Jeder versucht, die verzweifelte Stimme zu hören, mit welcher die junge Frau eine erneute Schlappe zu erklären versucht. «Ich kann euch nur darum bitten, mich nicht fertig zu machen und Geduld zu haben», sagt sie. «Ich verspreche euch, dass ich wieder schnell fahren werde.» Das war Ende Januar 2012. Zwei Jahre später steht Gut vor ihren ersten Olympischen Spielen, und sie hat ihr Versprechen umgesetzt: Sie fährt wieder schnell.
Es könnte die Geschichte einer ganzen Karriere sein, jene von Lara Gut. Von einer jungen Frau, die in ihrem ersten Weltcuprennen, bei dem sie das Ziel erreicht, als 16-Jährige aufs Podest fährt. Die der Öffentlichkeit bald zeigt, dass sie nicht nur das schnelle Blondchen ist, das in die Kamera strahlt, sondern auch ganz schön mühsam sein kann. Die eine schwere Verletzung erleidet und lange ausfällt, die ausprobiert, Lehrgeld bezahlt und schliesslich zum Siegen zurückfindet. Dies ist aber nicht die Geschichte einer Karriere, sondern bloss der Anfang einer solchen, denn am heutigen Punkt ist Lara Gut erst 22 Jahre alt.
Und doch - oder vielleicht gerade deswegen - gab es bereits einen Moment, an dem die Tessinerin am liebsten aufgehört hätte mit dem Skifahren. Und dies nicht einmal im Misserfolg. Es ist im Frühling 2009, bloss wenige Wochen nachdem sie im Val d’Isère an den Weltmeisterschaften zwei Silbermedaillen gewonnen hat. Die Schweiz jubelt über das sehnsüchtig erwartete neue Aushängeschild im Frauen-Skisport, hebt Gut von 0 auf 100 in den Star-Status, hängt alle Hoffnungen an sie. Das ist zu viel. «Ich war 17, und keiner hat mir erlaubt, einen Fehler zu machen», erinnert sie sich. Jedes Wort, das sie sagt, wird analysiert, «und ich wollte nicht in einer Welt sein, in der jeder eine Meinung über mich haben, etwas von mir erwarten darf». Was der Erfolg auf höchstem Level mit sich bringt, überrumpelt die Jugendliche. Plötzlich fährt sie nicht mehr einfach mal gut und mal schlechter Ski, sondern es wird jede ihrer Aussagen registriert, wird erwartet, dass sie auch das nächste Rennen gewinnt. Und dann das nächste und das übernächste, «und ich wusste gar nicht, weshalb ich das tun sollte». Sie wird nicht nur ins kalte Wasser geworfen, sondern eher einen tosenden Wasserfall hinunter.
Lara Gut glaubt das Mittel dagegen zu kennen: Wer nicht mehr mit den Medien spricht, dem kann auch keine Aussage falsch ausgelegt werden. Es dauert nicht lange, bis das Wort Zicke fällt. Sie hat das Gefühl, dass sie von aller Welt behandelt wird, als müsse sie wissen, wie der Zirkus funktioniert - doch das tut sie nicht. «Schliesslich war es so, dass ich mich nur noch in den eineinhalb Minuten während des Wettkampfes auf der Piste frei fühlte. Kaum kam ich ins Ziel, ging der Horror wieder los.»
DIE EXTRAWURST VERSTEHEN
Durchaus unangenehm kann es allerdings auch für die Gegenseite werden: Schnippische Kürzestantworten sind bei Gut keine Seltenheit, wenn sie keine Lust auf Medienarbeit hat. Eine kanadische Zeitung hat sie einmal aufgrund folgender Anekdote zur unsympathischsten Skifahrerin gekürt: In der Mixed Zone nach einem Rennen hustete sie, als sie sich den Mikrofonen näherte. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob sie Halsschmerzen hätte, soll sie geantwortet haben: «Nein, das ist nur meine Journalistenallergie, die zurückkehrt.»
Trotz den unübersehbar ungeliebten Pflichten, die ihr Sportlerinnendasein mit sich bringt: Nachdem sie Ende Saison 2009 drei Wochen lang allein Ski fahren gewesen ist, entscheidet sich Gut fürs Weitermachen. Nach wie vor hat sie das Gefühl, bei jedem Schritt ihre Entscheidung verteidigen zu müssen, die Karriere mit einem eigenen Team zu bestreiten und sich nicht wie gewöhnlich dem Verband anzuschliessen. Beweisen, dass das für sie das Beste ist und nicht eine Laune von einer, die einfach gern eine Extrawurst hat. Viele hätten gar nicht versucht zu verstehen, weshalb sie diesen Weg eingeschlagen hat, bedauert sie; Verständnis erfuhr sie nur von jenen, die ihren Erfolg auf demselben Weg gefunden hatten, etwa von der Kroatin Janica Kostelic oder der Slowenin Tina Maze. Es ist kein Zufall, dass auch diese Athletinnen zwar die absolute Weltspitze verkörperten respektive verkörpern, im Umgang aber alles andere als pflegeleicht sind - was übrigens ebenfalls auf die männlichen Kollegen mit eigenen Teams wie Bode Miller oder Marcel Hirscher zutrifft.
Aber wie weiss man in diesem jungen Alter, dass der Extraweg der Richtige ist? «Instinkt», sagt Gut nach kurzem Überlegen. «Ich habe immer gemerkt, dass ich das lieber allein mache. Ein Training ist besser, wenn es nur für mich bestimmt ist und nicht für drei Fahrerinnen. Oder für acht.» Und natürlich spielt eine Rolle, dass ihre Familie zu ihrem Team wird: Vater Pauli ist ihr Trainer, Mutter Gabriella macht das Backoffice, der jüngere Bruder Ian fährt ebenfalls Ski. Die Familie nahe zu haben, ist ein positiver Punkt in intensiven Zeiten: «Ich wollte ein Umfeld haben, das mich nicht nur als Zahl sieht.»
VERANTWORTLICH FÜRS TEAM
Bereits mit 17 Jahren wird Lara Gut so für ihre Familie verantwortlich. Doch das belastet sie damals nicht, «mit 17 bin ich einfach Ski gefahren, hatte Spass». Heute weiss die Tessinerin, was es bedeutet, wenn sie Erfolg oder Misserfolg hat. Ihrem Team gehören neben der Familie der langjährige Servicemann und je nach Bedarf ein Konditionstrainer, eine Physiotherapeutin und weitere Trainer an. Dank ihrer Reife belastet sie diese Verantwortung aber nicht. «Ich weiss, dass nicht alles kaputtgeht, wenn ich mal nicht in die Top 30 fahre.»
Ihren langen Atem muss Lara Gut auch 2009 beweisen: Sie steigt als viel beachtete Medaillenhoffnung für den Olympiawinter ins Vorbereitungstraining. Und stürzt. Renkt sich die Hüfte aus. Wird deswegen operiert. Die Olympischen Spiele in Vancouver sind futsch. Wochenlang darf sie nur auf dem Sofa liegen, eine Qual für die wirblige Lara, die plötzlich auf die Rundumbetreuung der Mutter angewiesen ist.
Die Rückkehr in die Saison 2010/11 nach der Verletzung gelingt zwar gut: Die Tessinerin fährt überraschend schnell und bereits im Dezember aufs Podest; im Januar siegt sie wieder. Doch dann bringt sie sich selbst ins Stolpern: Weil sie Klamotten ihres privaten Sponsors trägt, als sie Verbandskleider tragen sollte, gerät sie mit Swiss-Ski aneinander. Gut kritisiert den Schweizer Cheftrainer Mauro Pini, der früher ihr Privattrainer war, öffentlich in den Medien. Zudem wird ihr ein respektloses Verhalten gegenüber Swiss-Ski vorgeworfen. Das kann sich auch ein Supertalent nicht leisten: Gut wird für zwei Rennen gesperrt. Das Zusammenspiel zwischen dem Verband und dem Team Gut funktioniert für beide Seiten nicht glücklich.
Der Folgewinter wird nicht besser, im Gegenteil: Gut, die nie einen Hehl daraus gemacht hat, dereinst den Gesamtweltcup-Sieg anzustreben, bestreitet als Versuch jedes einzelne Weltcup-Rennen. Eine grosse Belastung für den Körper. Hinzu kommen weitere Erschwernisse, die sie sich selbst auferlegt: Auf die Saison hin hat sie von Atomic zu Rossignol gewechselt - die Gewöhnung an das neue Material braucht seine Zeit. Lara Gut wagt zudem den Sprung ins Filmbusiness, spielt in «Tutti Giù» quasi ihr eigenes Leben, eine junge Skifahrerin. Das Filmteam dreht auch an realen Weltcup-Orten, folgt ihr auf Schritt und Tritt.
Die Folge: Lara Gut schafft es in der ganzen Saison kein einziges Mal aufs Podest. Auch ihre Schweizer Rennkolleginnen brillieren in dieser Zeit keineswegs oder fehlen verletzt. Doch bei Gut ist klar, dass sie eigentlich mehr draufhätte, und so bekommt sie die Unzufriedenheit am meisten zu spüren. Das Flehen um Geduld in St. Moritz und das Versprechen, dass sie wieder schnell fahren werde, sie stammen aus diesem Winter. Ihr lautes, mitreissendes Lachen ist weit weg.
EIGENE BEDÜRFNISSE GESTILLT
Lara Gut versucht, aus dieser Saison die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie arbeitet mit Rossignol intensiv an der Entwicklung von Ski, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Sie beschliesst, die Disziplin Slalom vorerst auszulassen. Sie lernt herunterzufahren - was gar nicht so einfach ist, «weil ich doch so viel rede und lache». Gut fängt an, nachmittags im Hotelzimmer zu schlafen, auch mal allein zu sein, spazieren zu gehen, den Rummel zu meiden.
Auch in anderen Bereichen tastet sie sich zu ihren Bedürfnissen vor. Sie stellt ihre Ernährung um, steht heute selbst während der Rennen lieber 30 Minuten selber in der Küche, als im Hotelrestaurant vielleicht nur die Hälfte von dem zu bekommen, was ihr Körper braucht. Sie probiert über lange Jahre im Konditionstraining aus, was die für sie richtige Zusammenstellung ist - und kann nun, wo sie weiss, was ihr passt, davon profitieren. «Man kann immer etwas optimieren», sagt sie. Doch im Team Gut, wie es heute steht, fühlt sie sich wohl.
Wird dort nach ihrer Pfeife getanzt? «Das ist gar nicht nötig», sagt Gut schmunzelnd. «Sie wissen genau, was ich brauche.» Und was sie will. «Ich verlange nicht, dass jemand 24 Stunden auf Abruf bereit ist. Aber ich will hundertprozentigen Einsatz, weil ich ihn selber auch gebe.» Mittlerweile ist sie so selbstständig, dass sie selber entscheiden kann, was sie braucht, zum Beispiel wie viel Ferien. «Das hat sich in unserer Beziehung wohl am meisten verändert über die Jahre», sagt Vater Pauli Gut. «Heute treffen wir die Entscheidungen gemeinsam.»
Im Frühling 2012 verlässt Mauro Pini Swiss-Ski, Hans Flatscher wird neuer Cheftrainer der Schweizer Frauen. Und mit dem Mann von Sonja Nef entspannt sich die Situation zwischen dem Team Gut und dem Verband. Braucht es eine Lösung für ein Problem, wird heute diskutiert, wo früher gekämpft wurde. Hat Laras Extraweg die Harmonie beim gemeinsamen Training früher gestört, versuchen heute alle, von der Situation zu profitieren. Gut schliesst sich dem Team dann an, wenn es für sie Sinn macht, und trainiert dann allein, wenn sie es für richtig hält. «Früher war das gemeinsame Training furchtbar. Ich hatte stets das Gefühl, eine Aussenseiterin zu sein», gibt sie zu. «Es gab immer Nervosität und Spannung, wenn ich dazugekommen bin. Heute arbeiten wir alle in die gleiche Richtung.» Dass ihr Weg zum Erfolg von ihr festgelegt wird, stellt heute fast niemand mehr infrage. «Ich bin froh, dass das vorbei ist.»
Die Balance schafft aber auch eine gereifte Lara Gut noch nicht immer. Sie sagt zwar, sie habe es als Spiel akzeptiert, dass sie bei den Medien in einer Woche die strahlende Ski-Prinzessin ist, in der folgenden aber die Zicke. Trotzdem regt sie sich öffentlich darüber auf, wenn sie dauernd als Ski-Schätzchen betitelt wird. Als sie bei der Schweizer Sportlerwahl vom letzten Dezember Giulia Steingruber unterliegt, twittert sie: «Ich bin zu sehr Tessinerin, um bei den Sports Awards zu gewinnen.» Den Eintrag löschte sie nach den heftigen Reaktionen. Doch die Zuschauer, die Gut in der Liveshow mit ihrem unbeschwerten Auftritt um den Finger gewickelt hatte, reagierten brüskiert auf den reichlich giftigen Seitenhieb - denn eigentlich hatte ihr genau das Publikum die meisten Stimmen gegeben.
Im Februar nun hat Lara Gut die Chance, ihren Palmarès um Olympiamedaillen zu erweitern. Mit 22 Jahren zählt sie zu den Favoritinnen. Debütantin? Team-Leaderin? Zicke? Goldschatz? Für die Öffentlichkeit ist sie alles ein wenig. Einmal ein bisschen mehr dieses, einmal mehr jenes. Sie selber aber weiss genau, wer sie sein will. «Vor 22 Jahren wurde ich Lara getauft. Das muss reichen.»