Nach sieben Stunden Aufstieg erreicht Art Furrer, 80, am Seil seines Bergführers Diego Wellig, 56, den Matterhorn-Gipfel auf 4478 Metern über Meer. Es ist elf Uhr, das Wetter schön. Furrer trinkt ein Coca-Cola und isst etwas Speck. Dann geschieht, was am Matterhorn oft der Fall ist: Nebel zieht auf, die Sichtverhältnisse verschlechtern sich, Art fürchtet, dass er den Abstieg nicht mehr schafft. Seine Augen sind nach zwei Staroperationen handicapiert. Er sieht die Stufen nicht mehr gut, sobald es dunkel wird oder Nebel aufzieht. Das hat er allerdings seinem Bergführer vor der Tour nicht gesagt. Diego Wellig merkt, dass der Abstieg kritisch werden könnte.
Rettungsflug nötig
Die beiden wollen kein Risiko eingehen. Furrer ruft die Nummer 144 für einen Rettungsflug. Ein Helikopter der Air Zermatt steigt sofort auf und positioniert sich über dem Gipfel, der glücklicherweise aus dem Nebel ragt. Rettungschef Anjan Truffer persönlich lässt sich am Langseil absetzen und schnallt Furrer an. 30 Meter unter dem Heli wird der alte Mann am Seil zur Hörnlihütte runtergeflogen. Rettungschef Truffer von Air Zermatt sagt: «Das war die einzig richtige Entscheidung. Am Matterhorn ist nicht zu spassen.»
«Der Berg ist höher geworden», war das Erste, was Furrer bei einem Glas stärkenden Tee zu Kurt Lauber, dem Hüttenwart der Hörnlihütte, sagt. «Aber es war fantastisch, ich bin sehr dankbar, dass ich nochmals oben stehen durfte. Ich danke allen, am Sonntag gehe ich in die Jodelmesse und danke Gott.» Ehefrau Gerlinde, die von Zermatt raufgekommen war, ist auch froh, dass es gut gegangen ist. «Du bist ein Narr, dass du dir das noch antust», sagt sie lachend und ist trotz allem stolz auf ihren Mann. Furrer antwortet nur: «Alter schützt vor Torheit nicht. Aber es hat sich gelohnt.»
Hartes Training
Gerlinde kennt ihren Mann, mit dem sie alle Viertausender der Schweiz bestiegen hat: «Es hatte keinen Sinn, etwas dagegen zu sagen. Wenn er etwas will, dann will er es.»
Zwei Monate lang hat er intensiv trainiert: Fast 30 000 Höhenmeter absolvierte er (nur aufwärts), um am Tag X in Form zu sein. Mit Gerlinde bestieg er drei Viertausender, hat dabei zehn Kilo abgenommen und fühlte sich am Abend vor der Matterhorn-Besteigung topfit. Auf die Frage, ob Furrer die Tour schaffen wird, witzelte sein Bergführer, ein athletischer Mann: «Ich muss nur aufpassen, dass er nicht plötzlich vor mir ist.» Und: «Es hat keiner mehr Zeit zum Trainieren als ein Achtzigjähriger!»
Weil er wusste, dass die Familie protestieren würde, hielt Furrer seinen Plan bis wenige Tage vor dem Aufstieg geheim. Nur Hüttenwart Lauber und sein Bergführer waren eingeweiht. Sein Bruder Gregor erfuhr erst nach dem Aufstieg vom Abenteuer. Sohn Andreas hatte gemischte Gefühle: «So ein Kindergarten!», rief er aus.
Unzufriedener Bergführer
«Es ist ganz gut, dass die Besteigung nicht ganz gelungen ist», sagt der besonnene Hüttenwart Lauber. «Das zeigt wieder einmal, dass das Matterhorn keine leichte Sache ist.» Bergführer Diego Wellig war mit dem Resultat der Tour nicht zufrieden: «Der Gast hat ein Ziel: den Gipfel zu erreichen. Das Ziel des Bergführers ist es aber, den Gast wieder heil runterzubringen. Der Abstieg ist ebenso schwer wie der Aufstieg.»
Aber umkehren kam für Furrer nicht infrage, und Wellig wollte seinen prominenten Gast, der unbedingt auf den Gipfel wollte, nicht enttäuschen. Dass es ein 80-Jähriger noch aufs Matterhorn schafft, ist ungewöhnlich. Aber es gab in Zermatt einen Bergführer, Ulrich Inderbinen, der noch mit 90 Jahren zum letzten Mal das Matterhorn bestiegen hat, rauf und runter. «Eine Ausnahmeerscheinung, dieser Ulrich», sagt Furrer. «Er ist mit 104 Jahren gestorben, und mit 80 hat er noch zum letzten Mal einen Gast aufs Matterhorn geführt, stellt euch mal vor!»
Eine frühe Challenge
Art Furrer besteigt den Berg zum ersten Mal als Rekrut, in der Uniform, und zwar heimlich: Er langweilt sich in der Kaserne Sitten und beschliesst mit einem Freund, nach dem Abtreten am Samstag um fünf den Zug nach Zermatt zu nehmen und nachts zur Hörnlihütte aufzusteigen und frühmorgens den Bergführern auf den Gipfel zu folgen. Sie stehen am Sonntagabend rechtzeitig zum Appell wieder in der Kaserne. Solche Eskapaden in Uniform sind damals streng verboten. Aber keiner merkt etwas.
Nicht unbemerkt ging Furrers Streich mit Kurt Felix über die Bühne. Noch heute ist bei Nostalgie-Sendungen von «Verstehen Sie Spass?» die Episode mit dem Kiosk am Matterhorn und Reinhold Messner die beliebteste aller Nummern mit der versteckten Kamera.
Und was ist der nächste Exploit? «Jetzt bin ich wirklich an meine Grenzen gegangen. Das brauche ich nicht mehr. Ich werde versuchen, vernünftig zu werden!» Furrer lacht. Nur eins hat er bei seiner Matterhorn-Tour vergessen: Der legendäre Cowboyhut ist zu Hause geblieben. Und trotzdem haben ihn in der Hütte sofort alle erkannt.