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Dominique und Michelle Gisin

Ein Herz, eine Seele, und doch so verschieden

Die eine wurde vor vier Jahren Olympiasiegerin, die andere hat jetzt Gold in der Kombination geholt: Acht Jahre trennen die Schwestern Dominique und Michelle Gisin, und doch sind die beiden eng verbunden. SI Sport hat vor den Olympischen Spielen mit dem Skidoppel über Neid, Bewunderung und Kindheitserinnerungen gesprochen.

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Dominique und Michelle Gisin

Innige Beziehung: Neben den Genen schweissen gemeinsame Leidenschaften und herausfordernde Erlebnisse Dominique (l.), 32, und Michelle Gisin, 24, zusammen.

Fabienne Bühler/SI Sport

SI SPORT: SIE VERFOLGEN BEIDE AUCH ANDERE SPORTARTEN INTENSIV. WAS IST IHRE ERSTE PRÄGENDE ERINNERUNG AN DIE OLYMPISCHEN SPIELE?

DOMINIQUE:
«Das Sarajevo-Olympiabuch meiner Eltern hat mich durch meine Kindheit begleitet. Die Spiele fanden ein Jahr vor meiner Geburt statt. Ich blätterte oft darin, Fahrerinnen wie Michela Figini waren meine Helden. Ein Moment, der bei mir hängen blieb: Als Vik (Marathonläufer Viktor Röthlin, Anm.) in Peking Sechster wurde. Ausdauersport ist für mich so unfassbar, schon im Konditraining waren drei Stunden auf dem Velo nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Ich habe den ganzen Marathon geschaut und ab Kilometer 35 nur noch geheult, so krass fand ich seine Leistung.»

MICHELLE:
«Mir ist noch ein Bodypainting-Bild in Erinnerung von Sonja Nef, das muss vor den Spielen in Salt Lake City gewesen sein. Man sieht nur ihren Rücken, die Hand, den Ski und die amerikanische Flagge. Als kleines Mädchen war ich fasziniert davon, sie war mein grosses Vorbild. Das Bild hängt heute noch in meinem Zimmer. Ich weiss auch noch, wie ich sie etwa mit 14 Jahren zum ersten Mal traf. Dominique sagte: ‹Hey, Sonja, schau, das ist meine Schwester Michelle. Sie ist ein riesengrosser Fan von dir.› Ich bekam vor Schreck kaum den Mund auf.»

ERZÄHLEN SIE VOM MOMENT, IN DEM IHRE SCHWESTER DOMINIQUE OLYMPIASIEGERIN WURDE RESPEKTIVE MICHELLE WM-SILBER GEWANN.

DOMINIQUE:
«Ich arbeitete in St. Moritz fürs Tessiner Fernsehen und betreute Michelle gleichzeitig, war auf der Besichtigung zur Kombi-Abfahrt bei ihr. Sie war so nervös, ich übergab sie dem Mentaltrainer und sagte ihm, er solle sie irgendwie beruhigen. Danach sass ich zuoberst auf der Tribüne in der offenen Kommentatorenkabine, wo wir eingeschneit wurden. Mir war es egal, ich schaute das Rennen und bin fast gestorben. Da stehen die beiden, die ich von klein auf kenne (auch Wendy Holdener, Anm.) da oben und bringen es so souverän runter. Das hat mich beeindruckt. Danach habe ich nur noch geheult. Kommentieren musste ich während des Laufs nicht, nur danach analysieren. Den Rest des Tages sass ich mit verschmiertem Augen-Make-up da. Egal!»

Dominique Gisin Olympia-Gold Sotschi 2014

Grösster Triumph: 2014 wird Dominique (l.) zeitgleich mit Tina Maze Olympiasiegerin in der Abfahrt.

Getty Images

MICHELLE:
«Ich war damals noch zu Hause, flog erst später nach Sotschi. Im Nachhinein ist alles verschwommen. Meine Mom wollte nicht beim oberen TV schauen, weil er gross ist und sie den Lauf nicht allzu genau sehen wollte. Als ich meinen Bruder Marc bereits vor der Zieldurchfahrt jubeln hörte, waren wir sicher, dass Dominiques Zeit extrem viel wert war. Er kann es als Abfahrer einschätzen. Wir rannten nach oben und schauten gemeinsam zu Ende. Plötzlich stand die erweiterte Familie und viele Medien draussen. Es war verrückt und mega schön. Als Dominique anrief, weinten schon alle. Abends fuhr ich fürs Training nach Hoch-Ybrig und sah mir allein die Siegerehrung an. Wenn du weisst, was alles dahintersteckt, ist es ein unglaublicher Moment. In Sotschi dann sassen wir bei ihr im Zimmer, und sie erzählte alles. Unvergesslich.»

WAS BEDEUTEN IHNEN DIE OLYMPISCHEN SPIELE?

DOMINIQUE:
«Für mich war es ein Kindheitstraum, der wahr wurde, der mich bei der ersten Teilnahme überwältigt hat und der sehr emotional besetzt ist. Bei mir sowieso: Vancouver 2010 war meine grösste Niederlage, Sotschi 2014 der grösste Sieg meiner Karriere.»

Dominique Gisin

Dominique Gisin: «Nach Michelles WM-Silber habe ich nur noch geheult. Sie hat mich so beeindruckt.»

Fabienne Bühler/SI Sport

MICHELLE:
«Ein Riesen-Highlight. In unserer Familie war es Pflicht, 24 Stunden vor dem Fernseher zu sitzen und mitzufiebern. Dominiques Medaille hat nochmals etwas ausgelöst. Dieser Moment, als nach den Verletzungen alles zurückkam, ist fast nicht zu toppen. Das war das Prägendste, macht es noch wichtiger für mich.

WELCHE EIGENSCHAFTEN HÄTTEN SIE GERN VON IHRER SCHWESTER?

DOMINIQUE:
«Manchmal ihre Unbeschwertheit. Sie ist so ein Luftgeschöpf, das finde ich ungeheuer schön. Sie hat eine gewisse Leichtigkeit, eine grundsätzlich positive Einstellung dem Leben gegenüber, die mir völlig abgeht. Sie sieht die Relationen. Natürlich hat auch sie schwierige Momente, aber ihr Grundwesen war schon als Kind total locker. Einmal gewann sie eine Saison lang kein Rennen, nichts. Sie sagte aber immer: Den Final des Ovo-Grand-Prix gewinne ich! Sie ging an den Final und siegte in beiden Rennen, keine Ahnung wie. Wenn sie gut drauf ist und Lust hat, funktionierts einfach. Das finde ich faszinierend.»

MICHELLE:
«Ihre Intelligenz! Es ist extrem beeindruckend, wie sie ihr Physikstudium meistert. Hintendurch merkt man schon, wie sie manchmal am Limit ist. Aber auch dann bringt sie eine Topleistung: ob beim Fliegen, beim Studieren, vor den Medien oder bei Vorträgen. Dieser Wille und ihre Perfektion, das bewundere ich, und dann eben die Intelligenz, die liegt ausserhalb meines Verständnisses. Ich lese ein Physikbuch, das heisst ‹No idea›, das ist wie eine Übersetzung Physik– Deutsch und sehr lustig geschrieben. Ich habe mir Fragen notiert und ging dann zu Dominique, damit wir mal über ihr Studium diskutieren können.»

KENNEN SIE DAS GEFÜHL VON NEID ZWISCHEN IHNEN?

DOMINIQUE:
«Nein, das habe ich nie empfunden. Obwohl wir sehr ähnlich sind, gibt es auch Dinge, in denen ich froh bin, dass wir anders funktionieren. Sie kann zum Beispiel sehr hektisch sein, da bin ich geerdeter. Wir ergänzen uns gut. Und ich habe solche Freude, wenn ich etwa im Training in Zauchensee stehe und sehe, dass sie die Kurve exakt so fährt, wie ich es ihr gesagt habe. Dann denke ich: Wie cool! Das geht doch gar nicht. Und grummle nicht, weil ich das nicht ein einziges Mal so geschafft habe. Unser Vertrauen ist so tief, dass sie das einfach umsetzt, das ist schön.»

MICHELLE:
«Überhaupt nicht. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Da wir so weit auseinander sind, war es sowieso nie ein Gegeneinander. Wenn es Marc und Dominique nicht gut geht, gehts auch mir schlecht. Unsere Eltern haben uns Werte vermittelt, Respekt vor allen, Hilfsbereitschaft und den Glauben an das Gute im Menschen. Das schweisst Geschwister zusammen. Ebenso Dominiques Verletzungen oder Marcs schlimmer Sturz in Kitzbühel mit seinen langwierigen Folgen. Obwohl dies sehr schwierige Momente waren, haben sie uns einander noch nähergebracht.»

Michelle Gisin

Michelle Gisin: «Der Moment, als bei Dominique nach den Verletzungen alles zurückkam, ist fast nicht zu toppen.»

Fabienne Bühler/SI Sport

HAT SICH IHRE BEZIEHUNG SEIT DOMINIQUES RÜCKTRITT VERÄNDERT?

DOMINIQUE:
«Es ist ganz wie früher, nur umgekehrt. Nun bin ich halt die, die zu Hause bleibt, mitfiebert und Mom beruhigt. Die mehr der unterstützende Part ist. Ich versuche alles, um Michelle zu entlasten. Wenn sie anrufen würde und ich merke, es wäre gut, wäre ich dort – sie würde das ja nie sagen –, dann fahre ich auch mitten in der Prüfungssession zu ihr. Ich versuche auch, sie auf dem Weg in die schnellen Disziplinen zu begleiten. Was für sie ja emotional nicht ganz einfach ist. Sie war fünf, als ich die erste schwere Verletzung hatte, sie sah, wie ich im Bett lag und Mam traurig war. Nun versuche ich das auszubügeln, was ich angerichtet habe.» (lacht)

MICHELLE:
«Wir sehen uns weniger, haben aber immer noch sehr viel Kontakt. Schön ist, dass sie jetzt die grosse Schwester ist. Nach ihren Erfolgen war der Rummel um sie jeweils so gross, dass ich versucht habe, ihr so viel wie möglich abzunehmen, habe ihr etwa die Ski durch die Menge getragen. Sie sagte immer: ‹Nein, du musst das nicht›, aber ich habs gern getan. Nun hat sich das gekehrt. Kürzlich in Zermatt wollte sie mir alle Ski auf den Gletscher tragen. Oder sie macht an Rennen Selfies mit den Fans, damit ich mehr Ruhe habe. Das kann sonst niemand und ist ein grosser Vorteil. So sind alle zufrieden.»

WAS HABEN SIE VON IHRER SCHWESTER GELERNT?

DOMINIQUE:
«Viel. Die Unbeschwertheit und Relationen in gewissen Dingen. Dass ein schlechtes Resultat genau das ist und nicht der Weltuntergang. Sie kann mich auch als eine der Besten zurück auf den Boden holen, wenn ich zu hypern anfange. Sie ist ein tiefguter Mensch, hat eine Herzensgüte allen gegenüber. Sie besitzt so viel Geduld, das nehme ich mir häufig als Vorbild.»

Dominique Gisin

Dominique Gisin: «Michelle hat dem Leben gegenüber eine Leichtigkeit, die mir völlig abgeht.»

Fabienne Bühler/SI Sport

MICHELLE:
«Sehr viel im Leben. Sie hat so viel durchgemacht und schwierige Momente gehabt, wir hatten viele lange Autofahrten-Gespräche. Und dann die Speedgeschichte: Nach meinem Kreuzbandriss 2011 stand ich jahrelang nicht mehr auf den Abfahrtsski, ich hatte keine Zeit und investierte viel in den Slalom. Zu Beginn hatte ich Angst. Sie schaffte es, 2014 in St. Moritz jeden Meter der Abfahrt mit mir anzuschauen und mir viel Sicherheit zu geben.»

WIE REAGIEREN SIE IM ERFOLG, UND WIE GEHEN SIE MIT NIEDERLAGEN UM?

DOMINIQUE:
«Bei einer Niederlage bin ich völlig im Elend – aber nur zwei oder drei Stunden lang. Dann reagiere ich extrem, trainiere doppelt so viel. Auch an der ETH: Wenn ich schlechte Noten habe, rege ich mich auf und werde danach noch viel mehr zum Nerd. Das half mir bei den Verletzungen. Natürlich war es schwer, aber ich kann mir schnell wieder neue Ziele setzen. Im Erfolg bin ich ziemlich demütig, vielleicht, weil ich mehr von der anderen Seite erlebt habe. Den Olympiasieg in Sotschi und meine weiteren Erfolge konnte ich sehr geniessen, auch wenn es dann irgendwann wieder weitergeht.»

MICHELLE:
«Schwierig, das von sich selbst zu sagen. Wir sind sicher beide emotionale Menschen. Ich finde es wichtig, dass man die Gefühle herauslassen kann. Es ist schlecht, nicht darüber zu reden. Natürlich ist es im Erfolg einfacher, dann kommt es automatisch. Vor allem im Sport: Du kommst ins Ziel, siehst deine Zeit und kannst sofort reagieren. Das gibt mir Energie. Bei Niederlagen ist genau das mein Problem: Wenn ich es nicht herauslasse, schaukelt es sich hoch. Es wird schwierig, wenn du beginnst, dich selber anzuzweifeln. Es ist besser, wenn ich einfach mal zwei Stunden dasitze und heule.»

EINE ERINNERUNG AN IHRE KINDHEIT, DIE SIE NIE VERGESSEN WERDEN?

DOMINIQUE:
«Michelle wollte immer an die Skirennen mitkommen, die Marc und ich fuhren. Irgendwann fand Mom, dass es nicht gehe, wenn eine Dreijährige jeden Sonntag um 5 Uhr aufstehen – und weckte sie nicht. Michelle hat den ganzen Tag geheult und täubelet. Von da an kam sie wieder mit, mit ihrem Nuschi, und wurde den ganzen Tag von unserem Vater mitgeschleppt. Er war recht engagiert bei uns und hatte keine Zeit, ständig mit ihr zu spielen. Irgendwann war sie so müde, dass sie irgendwo einschlief. Aber sie fand es super.»

Michelle Gisin

Michelle Gisin: «Ich finde es wichtig, dass ich meine Gefühle rauslassen kann. Sonst schaukelt es sich hoch.»

Fabienne Bühler/SI Sport

MICHELLE:
«Oh, es gibt so viele! Welche soll ich erzählen? Einmal seilte mich Dominique vom Geländer der Wendeltreppe bei uns zu Hause ab. Im Pyjama, aber komplett mit Klettergstältli und Seil. Das fand ich natürlich super. Keine Angst, sie hatte das sehr gut im Griff. Ich habe sowieso alles mitgemacht, was Dominique und Marc vorgeschlagen haben. Und eine Kollegin von ihr behauptet immer, dass ich als Kind beim Skifahren mal eingeschlafen sei. Mein Vater hatte mich vor sich eingespannt, und da seien mir die Augen zugefallen.»

WAS WERDEN SIE AN IHRER SCHWESTER NIE VERSTEHEN?

DOMINIQUE:
«Ich verstehe eigentlich relativ viel. Aber genauso, wie sie ein mega Luftibus sein kann, fällt sie manchmal auch völlig unnötig und sinnlos ins Elend. Und ich denke: Was geht denn nun ab? Ich weiss dann nicht einmal, woher es kommt, dass aus einer Mücke ein Elefant wird. Aber manchmal bin ich genau gleich, um Gottes willen! Eigentlich darf ich gar nichts sagen. Manchmal kann ich einfach nicht ganz verstehen, wie sie sich selber im Weg steht. Sei etwas lieber mit dir selbst, denke ich dann. Sie kann sehr hart zu sich sein. Und ich weiss, dass ich das früher auch war.»

MICHELLE:
«Ihr ständiges Entschuldigen. Mittlerweile ist es besser, aber sie hatte eine Phase, da hat sie sich fast entschuldigt, wenn sie zur Tür reinkam. Sie will immer alles perfekt machen und sucht den Fehler bei sich. Eigentlich ist das ja schön, denn die meisten machen das Gegenteil. Aber wenn sie gar nichts getan hat? Es ist schade, denn ich glaube, dass sie dadurch Energie verliert. Dieses Zweifeln nervt manchmal. Ich glaube, sie sieht sich anders als wir sie. Für mich ist sie ein so guter, schöner, lieber, beeindruckender Mensch, aber sie findet immer, es könnte noch besser sein. Da möchte ich sie manchmal schütteln.

Dominique Gisin

Dominique Gisin: «Im Erfolg bin ich ziemlich demütig – vielleicht, weil ich von der anderen Seite mehr erlebt habe.»

Fabienne Bühler/SI Sport

Steckbrief Dominique Gisin


GEBOREN 4. Juni 1985 in Engelberg, Sternzeichen Zwillinge ZIVILSTAND Liiert ERFOLGE Olympiasiegerin 2014 Abfahrt; drei Weltcup-Siege, sieben Weltcup-Podeste, 49 Mal in den Top Ten; PARTNER Breitling, Siga; Botschafterin fit4future Bewegung der Cleven Stiftung INTERNETdominiquegisin.ch, facebook @DominiqueGisin, twitter @dominiquegisin, instagram @dominiquegisin

Steckbrief Michelle Gisin

GEBOREN 5. Dezember 1993 in Engelberg, Sternzeichen Schütze ZIVILSTAND Liiert mit dem italienischen Skifahrer Luca de Aliprandini ERFOLGE WM-Zweite alpine Kombination 2017; drei Weltcup-Podeste, 18 Top-Ten-Plätze; Silber Junioren-WM 2013 PARTNER Helvetia Schweiz Versicherungen, Rossignol, Thommen Architekten & Planer; Botschafterin fit4future Bewegung der Cleven Stiftung INTERNET michellegisin.ch, facebook @michelle.gisin, instagram @michellegisin

Diese Geschichte erschien im Magazin «SI Sport», Ausgabe 1/2018 vom 9. Februar 2018.

Cover SI Sport 1 2018 09022018 Dario Cologna
Fotografie: Sandro Bäbler
Von Eva Breitenstein am 11. Februar 2018 - 18:54 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 12:45 Uhr