Es ist erst 14 Uhr nachmittags, und bereits hat Steve Guerdat sein siebtes Pferd an diesem Tag geritten. Betty, eine sechsjährige Stute, ist eine der Zukunftshoffnungen unter den 22 Springpferden im Stall des Champions. Es ist die gewohnte Arbeit von Reiter und Pferd. Doch die Umgebung ist neu.
Der Olympiasieger von 2012 hat sich einen Traum erfüllt: ein eigenes Gestüt. «Schon seit einer Weile wollte ich eine Reitanlage kaufen. Nun, mit meinen 35 Jahren, konnte ich es mir endlich leisten.» Auch wenn er jetzt noch ein bisschen weiter weg ist von seinen jurassischen Wurzeln.
«Hier habe ich mein Traumziel gefunden»
Einen Steinwurf von der Grenze zum Kanton Thurgau entfernt, hat Guerdat im zürcherischen Elgg seine neue Heimat gefunden. «Es waren zehn schöne Jahre, die ich in Herrliberg über dem Zürichsee eingemietet war», sagt der Romand. «Aber die Zeit ist gekommen, weiterzuziehen. Und hier habe ich mein Traumziel gefunden.»
Es ist ein Paradies zwischen Gemüsefeldern und blühender Natur, das Steve Guerdats Vorstellungen von Glück ganz nahe kommt. Im Februar 2017 kaufte er die Anlage auf Vermittlung seines Trainers Thomas Fuchs von einem anderen Grossen des Schweizer Pferdesports: Der einstige Spitzenreiter Paul Weier, 83, lebte von Geburt an hier in Elgg.
Die Eltern des vielfachen Schweizer Meisters hatten die Anlage 1927 erbaut, er erweiterte sie später laufend auf 15 Hektaren Fläche. Zu ihr gehören eine Reithalle von 70 mal 30 Metern, ein riesiges Reitgelände im Freien, eine von Bäumen gesäumte Sandpiste, eine Führanlage und rund 70 Pferdeboxen. Und natürlich die Wohnung mit gedeckter Terrasse oberhalb des Stalls. Und das alles umschlossen von einer Parkanlage mit endlosem Ausblick. «Um den Tieren mehr Raum zu geben, haben wir die 70 Boxen auf 40 reduziert und alle mit einem Fenster nach aussen versehen», sagt der neue Besitzer Steve Guerdat.
Guerdat hat bei der Stall-Renovation kräftig mitgeholfen
Es waren nicht die einzigen Umbauarbeiten. Guerdat selbst tauschte seine Reithosen denn auch regelmässig gegen ein Handwerker-Übergewand. «Es waren Auffrischungen notwendig», erzählt der Reitprofi aus Bassecourt. «Wir haben den Stall innen neu gestrichen, den Boden neu gemacht, die Beleuchtungsanlage und den Sand ausgewechselt. Es ist nicht luxuriös, aber auf die Bedürfnisse der Pferde ausgerichtet. Wir alle haben mitgearbeitet.»
«Wir alle», damit meint Guerdat auch sein Team, das mit ihm von Herrliberg in die Region Winterthur umgezogen ist. Heidi, seine frühere Turnier-Pferdepflegerin, ist nun Stallchefin. Sieben Festangestellte arbeiten für ihn und bieten den Tieren, darunter acht Concours-Pferden, die bestmögliche Umgebung.
Auch «Pensionsgäste» haben in Guerdats Stallungen ihr Zuhause. Einer davon geniesst eine Art feudale «Sonderbehandlung»: Nino des Buissonnets, der Guerdat 2012 in London zu Gold getragen hat, ist seit Ende 2016 im Ruhestand. «Diese Stallungen gehören ein bisschen auch ihm», sagt Guerdat.
Er hat dem 17-jährigen Selle Français das Pony Chico als Gefährten zur Seite gestellt. Mit einem Schmunzeln erzählt Guerdat, wie Nino jeweils eifersüchtig reagiere, wenn er sich um Chico kümmere. Dafür reitet der Olympiasieger sein Lieblingspferd ein-, zweimal pro Woche selbst aus. Nino des Buissonnets gehört zwar nach wie vor dem Zürcher Milliardär Urs Schwarzenbach, «doch es wäre undenkbar gewesen, ohne ihn hierher umzuziehen».
«Ich bin ein Glückskind»
Dass Nino nicht mehr dabei ist, wenn Steve Guerdat nun Corbinian, Cayetana oder Bianca in den Pferdetruck zum CSIO St. Gallen verlädt, ist für den Reiter nach wie vor «gewöhnungsbedürftig und etwas schmerzhaft». Doch beklagen will er sich keinesfalls. «Ich bin ein Glückskind, dass ich meine Passion als Beruf leben kann. Pferde sind meine wichtigsten Gefährten im Leben.»
Bis zum Gelände des CSIO St. Gallen ist es nicht weit
Und an den Concours in St. Gallen, das grösste und wichtigste Freiluftturnier der Schweiz, hat er ohnehin gute Erinnerungen. 2017 gelang ihm mit sieben (!) fehlerfreien Umgängen in allen wichtigen Prüfungen ein tolles Kunststück. «St. Gallen ist für uns Schweizer immer ein besonders schönes Turnier. Vor heimischem Publikum zu starten, ist zusätzlich motivierend.» Auch ist St. Gallen nur eine kurze Ausfahrt von seiner WG im neuen Reitparadies von Elgg entfernt.