Zum ersten Mal persönlich traf ich Lys Assia vor 20 Jahren. Es war bei einer Benefizveranstaltung, als sie hinter der Bühne auf mich zutrippelte und fragte: «Herr Moderator, wie kündigen Sie mich auf der Bühne an?» Verdutzt wollte ich ihr meine einleitenden Worte vorlesen, aber sie unterbrach mich und meinte: «Sagen Sie einfach: Jetzt kommt ein Weltstar...»
Ja, Lys Assia war ein Weltstar! Ursprünglich ein Mädchen vom Lande, geboren 1924 im aargauischen Rupperswil als Rosa Mina Schärer, jüngstes von neun Kindern, in der Schule Rösli gerufen, das erst leidenschaftlich Ballett in einer Revue im Corso Palais in Zürich tanzte – und bald in Paris als «la nouvelle vedette Suisse» gefeiert wurde. Die legendäre Tänzerin Josephine Baker hatte den «neuen Stern aus der Schweiz» damals an die Seine geholt.
Wie aus «Rösli» Lys Assia wurde
«Lassen Sie den Schnörkel weg», rief sie mir noch hinterher, ehe ich auf die Bühne trat, um sie anzukündigen. Den Künstlernamen hatte sich Rosa Mina Schärer zugelegt, weil ihr Ballettmeister «Rösli» fürs internationale Showgeschäft ungeeignet hielt. Bei ihren prägnanten Backenknochen müsse sie einen Namen mit slawischem Klang wählen: Lys Assia.
Ihr Aufstieg begann mit dem Lied von der «Weissen Hochzeitskutsche». Sie sang monatelang für den amerikanischen Rundfunk, trat im englischen Fernsehen auf, eroberte mit ihrer weichen, schmeichelnden Stimme schnell das deutsche Publikum. Die Tochter eines Installationsgeschäftsinhabers stand mit Showgrössen wie Vico Torriani, Harry Belafonte, Marlene Dietrich, Frank Sinatra und Dean Martin auf der Bühne, erhielt sogar von der englischen Königin Elizabeth II. eine kleine goldene Kutsche als Geschenk überreicht – Lys Assia trug sie fortan als Talisman um ihren Hals.
Sie ist die erfolgreichste Schweizer ESC-Teilnehmerin
Dass sie im Ausland berühmter ist als bei uns in der Schweiz, wurde mir immer wieder schlagartig bewusst, wenn ich als Kommentator für den Eurovision Song Contest in Europa unterwegs war. 1956 hatte Lys Assia als erste und bis heute einzige Schweizerin mit dem Lied «Refrain» den ersten Concours Eurovision de la chanson, dem Vorläufer des heutigen ESC, gewonnen – in Lugano.
Uns Schweizern ist sie vor allem mit dem Titel «O mein Papa» in Erinnerung. «Im eigenen Land wird man immer zu wenig geschätzt», sagte sie einmal nachdenklich. Dabei stand sie wie keine andere im Showbiz für schweizerische Tugenden, predigte bis zuletzt jungen Sängerinnen: Bleib auf dem Boden, arbeite seriös, sei pünktlich und gehe mit anderen Menschen stets respektvoll um!
Sie stand gern im Mittelpunkt. Zu Recht. Sie war ein gefeierter Star in den grossen Varietépalästen Europas, begeisterte das Publikum in New York, Rio, São Paulo und Buenos Aires, wurde in Italien, Skandinavien und Spanien angehimmelt. Viele ihrer Lieder wurden in den 50er-Jahren zu Millionenerfolgen. Auch die Filmbranche wurde auf den Stern aufmerksam – und so stand Lys Assia in Filmen wie «Palace Hotel» (mit Legende Alfred Rasser) oder «Die Fischerin vom Bodensee» vor der Kamera. Sogar eine Rosenzüchtung trägt ihren Namen.
Dank Schwimmen blieb sie bis ins hohe Alter fit
Lys Assia gilt als Grande Dame de la Chanson. Auch mit über 90 kam sie noch topfit daher. Dafür schwamm sie regelmässig im Zürichsee. Auf Fragen nach ihrem Rezept, meinte sie im Brustton der Überzeugung und mit einem verschmitzten Augenzwinkern: «Man darf sich nicht gehen lassen!» Sie selbst hat sich jeden Tag etwas vorgenommen, sich chic gekleidet und sich ab und zu ein Gläschen Champagner gegönnt. Egal, wo Lys Assia über einen roten Teppich schritt, sie tat es galant und ladylike.
«Deine Liebe» sang sie 1957. Da war ich noch nicht einmal geboren. Aber ich weiss, dass Lys Assias Liebe in ihrem langen Leben nur zwei Männern galt: Henry Kunz, ein Zürcher Industrieller, dem sie 1953 das Jawort gab – und der 1957 an einem Herzleiden starb. Jahre später lernte sie während eines Gastspiels in Dänemark den dortigen Hotelkettenbesitzer Oscar Pedersen kennen und lieben. Sie heirateten, und es wurde etwas stiller um die gefeierte Sängerin.
«Oscar war die Liebe meines Lebens»
In der deutschen Stadt Lübeck gab es bis vor fünf Jahren sogar eine nach ihr benannte Herberge – das Hotel Lysia. Doch auch ihren zweiten Mann verlor Assia – 1995 bei einem Autounfall, den sie selbst schwer verletzt überlebte. «Oscar war die Liebe meines Lebens», sagte sie. Eigene Kinder blieben ihr versagt, sie war einmal schwanger, aber es sei ihr leider nicht bestimmt gewesen, den Buben auf die Welt zu bringen.
Am 24. März 2018 ist Lys Assia für immer verstummt
«La nouvelle vedette Suisse» starb vergangenes Wochenende im Alter von 94 Jahren im Spital Zollikerberg. Ich konnte es erst nicht fassen, als ich in England morgens die Zeitung aufschlug und die Meldung von ihrem Tod las. Wüsste sie, dass ich an diesem Text hier feile, sie würde sicher sagen: «Schreiben Sie einfach: Ein Weltstar ist von uns gegangen. Und lassen Sie den ganzen Schnörkel weg!»