Ein Blick genügt. Lolita, 54, und Tamy Glauser, 33, sind offensichtlich Mutter und Tochter. Die exakt gleichen Nasen, die vollen Lippen und dunkelbraunen Augen verraten es. Auch die tiefen Stimmen erklingen im gleichen gemächlichen Berndeutsch.
So ähnlich sie sich auch sind, die beiden Frauen gingen lange getrennte Wege. Lolita war in den wichtigsten Jahren von Tamys Jugend nicht bei ihrer Tochter. Nun hat Glauser ihre bewegte Kindheit in der Autobiografie «Tamy – Das, was ich bin, kannte ich nicht» niedergeschrieben.
Eine frühe Schwangerschaft
Am Ufer des Zürichsees erzählen Mutter und Tochter ihre Geschichte. Und blicken zurück auf das Ende des Jahres 1984: Lolita Glauser, damals 21-jährig und hochschwanger, feiert mit Freunden in Paris das neue Jahr. Am 2. Januar kommt Tamara, auf Berndeutsch Tämy, auf Neudeutsch Tamy, zweieinhalb Wochen zu früh zur Welt. Die Schwangerschaft war nicht geplant, mit dem Vater war Lolita nicht ernsthaft liiert. Sie waren gute Freunde. «Ich habe erst spät gemerkt, dass ich schwanger war. Doch über Nacht schaltete sich der Mutterinstinkt ein», erinnert sie sich.
Erst wächst Tamy in Lolitas Obhut in der Berner Altstadt auf, später wohnen sie in Biel. Doch die junge Mutter zieht es fort. Sie arbeitet als Model und ist noch nicht bereit, ihre eigenen Zukunftsvorstellungen für ein Kind ganz zurückzustellen. «Ich wollte immer ein Kind, aber eigentlich erst zehn Jahre später.»
Bei Pflegeeltern aufgewachsen
So zieht Lolita schon bald nach Köln und gibt die kleine Tamy in die Obhut der eng befreundeten Heinz und Charlotte Winzenried. Der Unternehmer, Politiker und Mäzen aus Stettlen BE besitzt eine grosse Kartonfabrik in Deisswil BE. Er und Charlotte bieten Tamy in ihrer vierstöckigen Villa mit Hauspersonal ein privilegiertes Zuhause, Liebe und Geborgenheit. «Mir war wichtig, dass meine Tochter Menschen im Leben hat, die sie genauso lieben wie ich. Damit es nicht tragisch wäre, wenn mir etwas passieren würde», erzählt Lolita und erschreckt damit ihre Tochter. «Spinnsch, Mami? Natürlich wäre das tragisch gewesen!»
Tamys biologischer Vater ist der Student Stefan Hofer, Sohn des berühmten SVP-Politikers und Historikers Walther Hofer. Er darf sich aber nicht bei seiner Tochter melden. Die Winzenrieds wollen mit dieser Abmachung verhindern, dass sie Tamy verlieren. Sie nennen die Pflegetochter «ein Geschenk des Himmels». Heinz Winzenried hat zwei von drei Kindern aus seiner ersten Ehe an eine Nervenkrankheit verloren. Charlotte hat mit ihrem Ex-Mann einen erwachsenen Sohn. Tamy ist das einzige Kind, das die Winzenrieds gemeinsam aufziehen.
Erst als Teenager beginnt Tamy sich zu fragen, woher sie eigentlich kommt. Doch sie wagt es noch nicht, nach ihrem Papi zu suchen. «Was, wenn er sich gar nicht für mich interessiert hätte?»
Tamy wollte dem Glück ihrer Mutter nicht im Weg stehen
Unterdessen macht Lolita noch einen Sprung weiter weg von Tamy. Die ehrgeizige Bernerin verschlägt es in die USA. In Los Angeles studiert sie Musik und absolviert die Theorieprüfung als Pilotin. Schliesslich arbeitet sie als Maskenbildnerin. Mit grossen Stars wie den Rolling Stones, Britney Spears und Justin Timberlake. «Los Angeles war damals kein Ort für eine Sechsjährige. Viel zu gefährlich! In der Schweiz war Tamy besser aufgehoben.»
Mutter und Tochter sehen sich nur noch einmal im Jahr. Jeden Sonntag um 18 Uhr telefonieren sie. «Da habe ich Mami natürlich vermisst», gesteht Tamy. «Doch ich wusste, dieses Leben macht sie glücklich. Dem wollte ich nicht im Weg stehen.» Ganz schön verständnisvoll für ein Kind! «So war ich lange Zeit. Ich stellte meine Bedürfnisse immer hinter die der Leute, die mir nahestanden.»
Lolita entfaltet sich in Amerika, denkt aber stets an Tamy. «Es spielte keine Rolle, wie weit ich weg war, im Herzen waren wir uns immer nah.» Im spirituellen Sinn? «Ja, total!», antworten Lolita und Tamy unisono. «Ich bin überzeugt davon, dass Tamy in mein Leben treten musste», so die Mutter.
Tamy hört den Erzählungen von Lolita gebannt zu. Wenn der Mutter Passagen schwerfallen, packt Tamy sie und gibt ihr Umarmungen und Küsschen. «Schon gut, Mami, wirklich», ermutigt sie Lolita immer wieder.
Das zweite Mami ist tot
Tamy denkt aber auch noch viel an ihre Pflegemutter. «Charlotte war mein zweites Mami.» Die Winzenrieds sind mittlerweile beide gestorben. «Ich werde sie für immer vermissen», sagt sie. Die Initialen HW ihres Pflegevaters hat sie auf ihren Arm tätowiert, sie helfen beim Andenken.
Mit 17 traut sich Tamy, ihrem leiblichen Vater einen Brief zu schreiben. Es kommt zu einem ersten Treffen. Seither hat sie mit Hofer, der heute in Dubai Headhunter ist, ein gutes Verhältnis.
Mutter Lolita sieht Tamy viel häufiger. Wenn Tamy von ihrem Pariser Zuhause nach Zürich kommt, übernachtet sie auch mal bei ihr. Sie erkennt sich in Lolita wieder: «Die Kreativität, die Körpersprache und einen sehr tiefen Schlaf habe ich von Mami.» Auch in ihrem Beruf kommt sie ganz nach ihrer Mutter. Mit 27 modelte Tamy für die gleichen Labels wie früher Lolita. Jean Paul Gaultier und Givenchy waren begeistert von der burschikosen Schweizerin, genauso wie damals von ihrer exotisch anmutenden Mutter. Lolitas Vater ist der Erstgeborene eines nigerianischen Königs. Eine Urkunde bestätigt Lolitas Titel als Prinzessin. Ihre Mutter war Bernerin.
«Es ist schon okay»
Vor zwei Jahren stiess Ex-Miss-Schweiz Dominique Rinderknecht, 29, zur Familie. «Wir haben eine wunderschöne Beziehung», schwärmt Lolita von Tamys Partnerin. In Rinderknechts Mutter habe sie zudem eine gute neue Freundin gefunden.
Dabei stellte Tamys Outing die Beziehung zu ihrer Mutter auf eine harte Probe. Lolita habe sehr geweint. Das sei aber gar nicht wegen des Lesbisch-Seins gewesen, sagt die Mutter heute. «Ich machte mir Sorgen, dass deine Freundin einen schlechten Einfluss auf dich hat.» Tamy war damals mit einer zehn Jahre älteren Frau zusammen. Sie schaut zu Boden und schweigt. «Das habe ich aber anders in Erinnerung», sagt Tamy schliesslich. Lolita streichelt ihrer Tochter über den Kopf.
«Rückblickend gibt es natürlich Momente, in denen ich gerne bei Tamy gewesen wäre», beteuert Lolita. Etwa, als ihre Tochter in eine ungesunde Beziehung mit einer gewalttätigen Freundin schlitterte.
Würde Lolita heute alles anders machen? Noch während sie nachdenkt, packt Tamy deren Hand: «Mami, es ist schon okay. Es ist alles so gekommen, wie es musste. Und es ist gut gekommen.»