Das Matterhorn liegt unter einer dicken Wolkendecke. Es schneit. «This hat den Schnee geliebt.» Noch Anfang Oktober besucht This Jenny, 62, seine Partnerin Ursula Abgottspon, 43, in Zermatt. Dem ehemaligen Glarner Ständerat gehts gut. Eine Magen-OP, acht Chemotherapien, 24 Bestrahlungen und 15 Kilo Gewichtsverlust hat er da bereits hinter sich. Der im Februar diagnostizierte Magenkrebs scheint besiegt. «Wir gingen auf eine lange Wanderung, er war glücklich, hatte keine Beschwerden.» An diesem Tag findet Abgottspon einen Stein. Er hat die Form eines Herzens. «Es ist wie ein Symbol.» Die beiden sind voller Hoffnung, schmieden Pläne für die Zukunft. Doch der Krebs schlägt erneut mit voller Wucht zu. Sechs Wochen später ist Jenny tot. Am 15. November setzt er seinem Leben mithilfe von Exit ein Ende. An seiner Seite bis zum Schluss Ursula Abgottspon. Gedankenverloren schaut sie jetzt aus dem Fenster.
Schweizer Illustrierte: Tut es gut, an This zu denken, oder tut es vor allem weh?
Ursula Abgottspon: Beides. Es ist schön, mit seinen Freunden Erinnerungen auszutauschen und über seine Sprüche zu lachen. In anderen Momenten kann ich nicht mal ein Foto von ihm anschauen. Ich weine jeden Tag.
Was hat Sie beide verbunden?
Wir Bergler sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. Wir hatten einen ähnlichen Humor, konnten über Dinge lachen, die andere nicht verstanden haben. Stark verbunden hat uns die Liebe zur Natur, zum Skifahren, zum Wandern und überhaupt zum Leben.
Wann vermissen Sie This besonders?
Ich vermisse ihn ständig. Es gibt so vieles, was ich ihm gerne erzählen würde. Manchmal habe ich das Gefühl, er kommt gleich um die Ecke. Wie kürzlich, als ich mit seinem Koffer in Zürich unterwegs war. Ich sah ihn fast vor mir.
Der Entscheid, mit Exit zu gehen, war für ihn nicht einfach
Abgottspon zündet eine Adventskerze an, setzt sich auf das grosse Ecksofa, zieht die Beine eng an den Körper. «Der Platz unter dem Dachfenster gefiel This am besten.» Oft seien sie hier gesessen, hätten miteinander gelacht und geredet. «This hat mich vor seiner Krankheit gefragt: ‹Wie ist das wohl, wenn dir die Ärzte sagen, dass du nur noch ein Jahr zu leben hast?›» Nie hätte sie damals gedacht, dass ihr geliebter Partner selbst mal diese Worte hören würde. «Ich kann mich noch an den Tag und die Uhrzeit seiner Krebsdiagnose im Februar erinnern. Plötzlich ist nichts mehr wie zuvor.»
Sie waren an Jennys Seite, als er den «Cocktail», wie er ihn nannte, zu sich nahm. War es für Sie selbstverständlich, ihn beim Sterben zu begleiten?
Anfangs hatte ich Zweifel, gegen Ende war es für mich völlig klar. Die fünf Jahre, die wir zusammen hatten, waren unglaublich intensiv. Der Entscheid, mit Exit zu gehen, war für ihn nicht einfach und brauchte Mut. Warum sollte ich den Menschen, den ich so liebe, in dieser letzten, schwierigsten halben Stunde seines Lebens alleine lassen?
Weil Sie nicht wussten, was Sie erwartet?
Es ist schon sehr speziell, zu wissen, dass an diesem einen vorbestimmten Tag der Tod zur Türe reinkommt. Aber ich rate jedem, der mit dieser Situation konfrontiert wird: Sei dabei.
Was hat Ihnen dieser letzte gemeinsame Moment gegeben?
Der letzte Blick von This hat mir ganz viel Kraft gegeben. Der Tod ist ein heiliger Akt.
Wie meinen Sie das?
Ich habe den Tod wie eine Geburt in eine andere Dimension erlebt. Nicht als schwarzes Gespenst.
Hat sich Ihre Einstellung zum Tod verändert?
Ich war schockiert, wie sehr der Tod in unserer Gesellschaft tabuisiert wird. Wie viele Leute nur schon hilflos sind, wenn sie auf jemanden zugehen sollen, der einen geliebten Menschen verloren hat. Oder einen Todesfall gar ignorieren. Wir geben Millionen für Präventionsprogramme aus, doch das Thema Sterben geht vergessen. Dabei wäre es so wichtig, dass die Leute achtsamer damit umgehen. Der Tod kann jeden Tag kommen. Sobald man beginnt, jemanden zu lieben, sagt man auch Ja zu den Tränen des Abschieds.
Ich habe lange nach einem letzten Strohhalm gesucht
Auf dem Sofa liegt ein Buch zum Thema Trauerbewältigung. «Ich will nicht in der Trauer verharren, sondern mich damit auseinandersetzen.» Eine Zeit lang sei sie vor Schmerz wie gelähmt gewesen. «Die Anteilnahme in diesen Tagen hat mich unglaublich berührt.» Gute Freunde brachten ihr warmes Essen vorbei. Ihre drei Söhne Sandro, Jan und Silvan im Alter von 15 bis 21 Jahren führten den Haushalt, als sie in Glarus bei This am Krankenbett sass. Mit ihren «Jungs» wird sie Weihnachten verbringen, ruhig und zurückgezogen in einer Berghütte oberhalb von Zermatt. «Dorthin wollte This so gerne nochmals gehen.» Sie weint.
Ohne Sterbehilfe wäre Ihnen wahrscheinlich noch mehr Zeit geblieben...
Ich habe lange nach einem letzten Strohhalm gesucht. Ich habe This zu einer weiteren Chemotherapie motiviert, in der Hoffnung, ein paar Wochen oder Monate mit guter Lebensqualität zu gewinnen. Ich habe seine Akten an eine Klinik in Bochum geschickt, die ein spezielles Verfahren für seine Art von Krebs entwickelt hat.
Wann haben Sie aufgegeben?
Die letzte Chemotherapie hat keine Wirkung gezeigt. Ich habe gesehen, was der Krebs innert wenigen Wochen mit einem Menschen anrichten kann. This konnte zum Schluss nicht mehr essen oder trinken - das ist keine Lebensqualität mehr. Bauchfellkrebs ist palliativ nur schwer behandelbar, es ist fast nicht möglich, ohne Schmerzen zu sterben. Sein Entscheid für Exit war einmal mehr der richtige. Der freie Wille ist das höchste Gut auf Erden.
Eine traurige Hochzeit wollte ich nicht
Abgottspon hofft, dass man sich noch lange an ihren «lieben Schatz This» erinnert. An seinen einzigartigen Humor, seine Zufriedenheit. Und dass er sich in keine Schublade, in kein Schema hat pressen lassen - auch nicht in das seiner Partei, der SVP. Ihre Erinnerungsstücke an This - die Fotos, das Herz aus Stein - bewahrt sie in Zermatt auf. Es war auch ihr letzter Wunsch, einen Teil der Asche von This bei sich zu haben. Der andere Teil ist bei Jennys Ex-Frau und den zwei Kindern.
Wollten Sie noch heiraten?
Ich wäre sehr gerne seine Frau geworden, aber auch mit der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Eine traurige Hochzeit, das wollte ich nicht.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich spreche viel mit This. Ich habe ihn gebeten, mir dabei zu helfen, meine Lebensfreude wiederzufinden. Mit This war ich auf dem Gipfel. Jetzt bin ich unten im Tal. Ich muss mir einen neuen Gipfel erschaffen, Schritt für Schritt. Die Aussicht dort oben wird aber nie mehr so sein wie mit ihm.