Er war mal Hausbesetzer und lebt heute in einer 180-Quadratmeter-Eigentumswohnung im Zürcher Kreis 3. Da, wo bis vor zwei Jahren noch Büroangestellte täglich ranklotzen mussten, blickt Thomas Haemmerli, 53, ganz entspannt in den Laptop vor seiner beachtlichen Bücherwand.
Haemmerli, der in seiner Jugend als angehender Revoluzzer in die Berge Nicaraguas reiste, ist Filmemacher, Journalist und Künstler.
Der Titel seines jüngsten Streifens, der gerade im Kino läuft, lautet: «Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings». Haemmerli profitiert von der Gentrifizierung, die den Strukturwandel städtischer Viertel im Sinne einer Attraktivitätssteigerung für eine neue Klientel zahlungskräftiger Eigentümer und Mieter bezeichnet, so das Online-Lexikon Wikipedia.
Seine Familiengeschichte gäbe Stoff für ein Krimidrama
Er wächst am noblen Zürichberg auf, besucht das Gymnasium. Der Vater war Wirtschaftsanwalt, die Mutter Dolmetscherin; sein jüngerer Bruder Erik ist ein bekannter Fernsehkoch («Swiss Dinner») und Zürcher Gastrounternehmer.
«Ich war ein langhaariger Freak, träumte von Woodstock und sah mir tonnenweise Dokumentarfilme an über Geschichten in der Welt.»
«Unser Elternhaus war klassisches Bildungsbürgertum, mitsamt dem ganzen Zirkus wie Zunft, GC-Tennis, und man stand der FDP nahe.» Ansonsten bezeichnet Haemmerli seine Familie als kosmopolitisch, man sei viel gereist, Sprachen spielten eine grosse Rolle. Er selbst spricht neben Deutsch als Muttersprache «richtig gut Englisch, Französisch und Spanisch, dazu ein bisschen Portugiesisch sowie ein paar Brocken Russisch».
Haemmerlis Mutter war ein Kuckuckskind
Prägend sind die Grosseltern väterlicherseits für ihn gewesen. «Sie hatten eine Arztpraxis, in der sie während des Krieges Flüchtlinge gratis behandelten, sie waren nazifeindlich, aber auch antilinks», erinnert sich Haemmerli. Seine Familiengeschichte gäbe guten Stoff für ein Krimidrama:
Das Grosi mütterlicherseits, eine österreichische Baronesse, sei mit einem deutschen Patentanwalt verheiratet gewesen, habe diesen jedoch mit einem italienischen Comte betrogen. Eine Freundin, mit der sie sich irgendwann verkrachte, habe dem Opa verraten, dass Thomas Haemmerlis Mutter ein Kuckuckskind sei. Erbe futsch.
Ein Wasserhahn, aus dem Wasser fliesst, ist wahnsinnig geil. Ich erkannte den Sexappeal funktionierender Gesellschaften.
Die Idee vom Schützengraben in Nicaragua
Als Jugendlicher rebelliert er. Hört Pop- und Rockmusik, sympathisiert mit Roger Schawinskis Piratenradio. «Ich war ein langhaariger Freak, träumte von Woodstock und sah mir tonnenweise Dokumentarfilme an über Geschichten in der Welt.»
Haemmerli ist bald wild entschlossen, nach Nicaragua in den Schützengraben zu gehen, «um die dortige Revolution gegen eine allfällige Ami-Invasion zu verteidigen». Warum? «Ich dachte, das macht ein anständiger Kerl so.»
Statt im Schützengraben landet er als eine Art menschliches Schutzschild auf einer Kaffeeplantage, lebt in zum Teil sehr kargen Verhältnissen und erkennt plötzlich, «dass das von mir vorher so geschmähte Schweizer Demokratie-Modell gar nicht so wahnsinnig schlecht ist».
Sein Fazit: «Ein Wasserhahn, aus dem Wasser fliesst, ist wahnsinnig geil. Ich erkannte den Sexappeal funktionierender Gesellschaften.»
Doku-Hit: «Sieben Mulden und eine Leiche»
Zurück in der Heimat studiert Haemmerli erst Jura, dann Philosophie. Einen Abschluss hat er in beiden Fächern nicht. Ende der 1980er-Jahre gründet er das Zürcher Stadtmagazin «Nizza», wird so Unternehmer.
Er schreibt für «Weltwoche», «Das Magazin», «NZZ Folio», macht Werbung für Mercedes und Butter, arbeitet als «10vor10»-Nachrichtenredaktor beim Schweizer Fernsehen, wird SRF-Korrespondent in Paris und landet schliesslich beim legendären deutschen WDR-Politmagazin «ZAK».
Einen Namen als Filmer hat er sich 2007 mit der Doku «Sieben Mulden und eine Leiche» gemacht. Darin setzt sich Haemmerli sehr offen mit dem Messie-Syndrom am Beispiel seiner verstorbenen Mutter auseinander.
Spätes Vaterglück für den Tausendsassa
Als knapp 50-Jähriger wird er selber Vater. Mit seiner Partnerin, der mexikanischen Künstlerin Ana Roldán, 39, hat er zwei Kinder: Sohn Pablo, 4, und Tochter Lupe, 3. Kennengelernt hat sich das Paar in der Kunstszene. Auch da mischt Haemmerli mit und auf – mit Performance. Er sagt: «Ich habe gern laute Kunst.»
Der Mann scheint ein umtriebig Getriebener. Einer, der «in permanenter Selbstdarstellung rotiert», wie der «Tages-Anzeiger» über ihn schrieb. Haemmerli hat keinerlei Problem damit, dass ihn – vor allem Schweizer Journalistenkollegen – als eitlen Narzissten abstempeln.
Auch im aktuellen Film dreht sich vieles um ihn selbst, wie der Titel verrät. «Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings». Haemmerli ist der Finsterling!