Sehr geehrter Herr Shaqiri
Sie wundern sich vielleicht über die Ressentiments, die Ihnen und Ihrem Kollegen Herrn Xhaka entgegenschlagen, seit Sie beide während des Spiels gegen Serbien die Geste des Doppeladlers gemacht haben. Gern möchte ich Ihnen die Gründe darlegen.
Schweizer Rassismus gibt sich gebildet
Sie müssen wissen (und wissen es bestimmt längst), dass wir Schweizer ziemlich fremdenfeindlich sind. Vermutlich sind das alle anderen auch, aber bei uns gehört es beinahe zum guten Ton, sich gegenüber anderen Völkern für etwas Besseres zu halten. Man eckt mit entsprechenden Bemerkungen kaum irgendwo an. Dafür umso mehr, wenn man diese massregelt.
Ich weiss, wovon ich spreche, ich bin der Sohn eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter. Unzählige Male wurde ich mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert – und als «überempfindlich» oder «humorlos» bezeichnet, wenn ich versuchte, diese zu entkräften. Gelungen ist es mir übrigens nie.
Manchmal wäre es mir fast lieber, mir würde mal ein Skinhead eine reinhauen, als dass ich mir von Leuten, die ich nicht nur für klug halte, sondern auch für Freunde, Nazi-Kacke anhören muss.
Der Schweizer Rassismus ist nicht gewalttätig. Er zündet keine Flüchtlingsheime an und verprügelt nur selten Angehörige von Minderheiten. Er ist im Gegenteil freundlich, gibt sich gebildet und ist überzeugt, keine problematische Geisteshaltung zu sein, sondern letztlich eine politische Diskussion. Weil er sich auf das Argumentieren beschränkt, wähnt er sich stets auf moralisch und intellektuell festem Boden.
Das antisemitische Vorurteil, das er kolportiert, ist in seinen Augen darum weder antisemitisch noch ein Vorurteil, sondern ein Faktum, mit dem sich «die Juden» doch bitte auseinandersetzen mögen – was bedeutet, artig dazusitzen und keine Widerrede zu üben. So läuft das bei uns, und manchmal wäre es mir fast lieber, mir würde mal ein Skinhead eine reinhauen, als dass ich mir von Leuten, die ich nicht nur für klug halte, sondern auch für Freunde, Nazi-Kacke anhören muss.
Ein Schweizer von Schweizers Gnaden
In Ihrem Fall, Herr Shaqiri, geht der Schweizer Rassismus noch weiter: Er hat Sie zu einem Schweizer von Schweizers Gnaden gemacht. Sie sind zwar das Kind kosovo-albanischer Eltern, vertreten aber unser Land erfolgreich an internationalen Sportwettkämpfen. In der Kombination ergibt das so etwas wie einen Mercedes mit Renault-Motor: Die Gene könnten besser sein, aber man kann sich damit sehen lassen.
Wir erwarten, wenn wir schon bereit sind, über Ihre Herkunft hinwegzusehen, spiegelblankes schweizerisches Verhalten.
Dass wir Sie als Schweizer wahrnehmen, ist eine hohe Auszeichnung – aber auch ein Gebot. Wir erwarten, wenn wir schon bereit sind, über Ihre Herkunft hinwegzusehen, spiegelblankes schweizerisches Verhalten. Früher, als die Christen missionierten, nannten sie diese Forderung «Abkehr». Das hiess in etwa: Solange du dich so verhältst wie wir, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Erwischen wir dich aber, wie du zu deinem falschen Gott betest, schneiden wir dir die Kehle durch.
Die Doppelmoral mit dem Doppeladler
Herr Shaqiri, Sie haben eindeutig zum falschen Gott gebetet. Sie haben nach Ihrem Tor gegen Serbien mit Ihren Händen den Doppeladler geformt. Ist das der Dank dafür, dass wir Sie in unserem Land leben, ja in unserer Nationalelf spielen lassen? So war das nicht gemeint! Wir sind beleidigt, wir fühlen uns verraten.
Das klingt wie eine passiv-aggressive Mutter, was den Charakter der Schweiz wohl ganz gut beschreibt.
Es gibt sogar Leute, die sagten, sie könnten sich über den Schweizer Sieg «nicht mehr richtig freuen». Das klingt wie eine passiv-aggressive Mutter, was den Charakter der Schweiz wohl ganz gut beschreibt. Immer ein bisschen auf Vorrat gekränkt sein und aus Prinzip vorwurfsvoll gucken.
Ihr Doppeladler hat viele von uns offenbar schlicht überrascht. Sie haben nicht damit gerechnet, dass in einem, der zwar als Albaner zur Welt gekommen ist, aber so lange auf der guten Schweizer Erde gewandelt hat, unseren Pass besitzt und obendrein noch das Trikot der Nationalmannschaft trägt, noch so viel Balkan steckt. Musste der ausgerechnet aus Ihnen herausbrechen, nachdem Sie ein Tor für uns geschossen haben? Für uns! Nicht für Albanien! Kapieren Sie das denn nicht!
Verbundenheit mit den albanischen Wurzeln
Ich persönlich fand Ihre Aktion übrigens auch etwas seltsam. Aber nicht, weil ich sie als verräterische, undankbare oder provokative Geste empfunden habe, sondern weil mir der Nationalstolz fremd ist. Ich definiere mich über andere Dinge. Aber ich bin auch nicht Sie. Ich musste meine Heimat nie verlassen, schon gar nicht als kleiner Junge, sonst hätte ich wohl auch eine stärkere Bindung zu ihr.
Wer sich darüber aufregt, darf auch nicht jubeln, wenn die Schweiz gewinnt. Er ist sonst: ein Heuchler.
Und vermutlich musste der Albaner Shaqiri im Lauf seines Lebens mehr Ressentiments erdulden als der Jude Meyer. Im Weiteren ist mir keine Davidstern-Geste bekannt, die ich machen könnte, zu welchen Anlässen auch immer, und als ich heute probiert habe, eine zu formen, gab ich rasch auf. Der Doppeladler macht definitiv mehr her. Ich glaube, Sie zu verstehen.
Mir tut es leid, dass so viel Sympathie von Ihnen und Ihrem Kollegen Xhaka abgezogen worden ist. Ich finde nicht, dass Sie etwas falsch gemacht haben. In meinen Augen haben Sie sich lediglich das Recht genommen, die Verbundenheit zu Ihren Wurzeln auszudrücken, und zwar im Rahmen eines Fussballspiels. Wer sich darüber aufregt, darf auch nicht jubeln, wenn die Schweiz gewinnt. Er ist sonst: ein Heuchler.
Herzlich,
Thomas Meyer