«Elia, weimer schwinge?», ruft der vierjährige Xavier seinem kleinen Bruder zu. Ohne die Antwort abzuwarten, steigt er in die viel zu grossen Sieger-Schwingerhosen seines Papis und zieht den blond gelockten Elia, 2, auf die Wiese vor dem Gartensitzplatz. Die beiden purzeln und toben, lachen und schreien – mindestens zehn Gänge lang: «Elia, jetzt kannst du mich auch mal auf den Rücken legen, ich sitze bereits», sagt Xavier.
Sohn Xavier will im Kindergarten ständig mit allen Kindern schwingen
Mami Cécile, 36, verdreht amüsiert die Augen und erzählt: «Wir hatten das erste Elterngespräch im Kindergarten. Xavier wurde in fast allen Belangen gelobt, nur eines sei etwas problematisch: Er wolle mit allen Kindern ständig schwingen und verstehe nicht, dass manche nicht mal wissen, was das ist.»
Das könnte sich diese Woche geändert haben, als Xavier von seinem Papi, Stucki Chrigu, 32, dem frischgebackenen Unspunnen-Sieger, am Montagmorgen in den Kindergarten begleitet wird.
Zurück in den Alltag
Die Pflichten zu Hause in Lyss BE haben beim Schwinger nach seinem Triumph in Interlaken gleich Einzug gehalten. Wäsche waschen, sich um die Buben kümmern, beim Beck die Brötchen holen. Trotzdem waren die letzten Tage für Stucki nach seinem grössten Sieg der Karriere alles andere als alltäglich. Medientermine, zwei offizielle Fan-Empfänge. Auch privat gabs zu feiern: den zweiten Hochzeitstag.
Die körperlichen Strapazen des Schwingfests stehen Christian Stucki noch ins Gesicht geschrieben: hier eine Schramme, da eine gerötete Stelle. «Das Sägemehl ist halt ein rechtes Peeling», sagt Stucki, der erst um drei Uhr ins Bett gekommen ist, mit seinem typischen Schalk und heiserer Stimme. Kein Wunder, hinterlässt das Schwingfest Spuren.
Tagwacht um vier Uhr morgens
Es ist ein wahrer Kraftakt des 198 Zentimeter grossen und rund 140 Kilo schweren Kolosses. Auch wenn es in den ersten Gängen noch so aussieht, als würde der Mitfavorit Stucki ohne Mühe durchmarschieren.
Er bodigt der Reihe nach den Unspunnen-Sieger 2011, Daniel Bösch, und die Eidgenossen Marcel Mathis, Fabian Kindlimann und den späteren Final-Gegner Curdin Orlik. Erst am Nachmittag zollt er der Hitze und dem langen Wettkampf – Tagwacht ist um vier Uhr morgens – Tribut und stellt gegen den 130-Kilo-Brocken Sven Schurtenberger.
Im über 14 Minuten dauernden Schlussgang gegen Überraschungsmann Curdin Orlik, den für die Berner startenden Bündner, kann man die Kräfte beider Athleten regelrecht schwinden sehen. Stucki schafft es, in letzter Minute seine letzten Energiereserven freizusetzen, und siegt. Er wendet so auch einen Sieg der Innerschweizer ab, da Joel Wicki bei einem Gestellten erben würde.
Grosse Emotionen bei den Angehörigen
Nicht nur für den Schwinger, sondern auch für die Angehörigen – Ehefrau Cécile, die Eltern Daniela und Willy sowie Schwester Andrea – ist der Tag kräftezehrend und nervenaufreibend. Die angestauten Emotionen entladen sich bei Daniela und Cécile in Freudentränen, als sie ihren Chrigu bei der Übergabe des Siegermunis Gottlieb in die Arme schliessen. Es sei so viel passiert, dass sie immer noch dran sei, ihre Emotionen «z püschele», sagt Cécile.
«Ich bin auch noch immer ein wenig überwältigt. Es ist eine Genugtuung, denn auch ich kenne Kritik, vor allem im schwingerischen Bereich. So ist dieser Sieg eine wunderbare Duftnote», sagt Stucki, um aber gleich anzufügen: «Aber ich bin pragmatisch. Ich meine nicht, dass ich jetzt ein Siebesiech bin.»
Mit 20 verliert er fast ein Bein
Genau wegen dieser Demut und wegen seiner gmögigen Art ist er seit Jahren ein Publikumsliebling. Man hat den Eindruck, es gebe vom Traditionalisten bis zum Mode-Fan kaum einen, der ihm den Erfolg nicht gönnt. Dazu beigetragen hat seine bewegte Geschichte. Mit 20 verliert er nach einer verschleppten Infektion fast ein Bein. Und sportlich fehlt ihm trotz 118 Kränzen und dem Sieg am Kilchberger 2008 stets etwas zum unvergesslichen Triumph.
Am nächsten kommt er dem Legendenstatus beim Eidgenössischen 2013 in Burgdorf – mit einer Niederlage: Sein Kuss nach dem verlorenen Schlussgang auf den Kopf des Königs Matthias Sempach macht ihn zum Sieger der Herzen.
Die Familie Stucki mag's modern
Stucki mag nicht auffallen um jeden Preis, auch wenn er das mit seiner Statur sowieso tut. Dafür springt sein blau-grünes Heim mit Flachdach inmitten weisser Bauten ins Auge. Das moderne Eternithaus haben Stuckis kurz vor Weihnachten bezogen. «Es ist alles genau, wie wir es wollten», sagt Stucki, der in einem Holzhaus in Diessbach bei Büren aufgewachsen ist und sich danach nach etwas Modernerem sehnte. «Cécile bekam eine grosse, helle Küche und ich eine übergrosse Dusche, eine hohe Decke und ein Cheminée zum Fürle.»
Nun steht mehr Familienzeit auf dem Plan
Stuckis Bewegungen wirken noch etwas steif, hie und da kommt ein «Aua» über seine Lippen, als er seine kleinen Energiebündel in der Wiese zu bändigen versucht. Die Schwingsaison ist nun zu Ende, und mehr Familienzeit steht im Vordergrund. Doch Ferien – er arbeitet zu 60 Prozent als Lastwagenchauffeur – gibts erst im Herbst.
Dann fliegen die Stuckis für drei Wochen auf die Insel Formentera. Auch da werden Xavier und Elia wieder schwingen, diesmal auf Sand. Und vielleicht irgendwann auf Sägemehl wie Papi Chrigu. Dieser hat noch lange nicht genug. «Der Kreis ist noch nicht geschlossen, dafür fehlt mir noch ein Titel.» Der König der Herzen will auch noch im Ring König werden.