Die Chalets auf der Bettmeralp im Wallis thronen mit geschlossenen Fensterläden am Berg, die Stübli haben die Vorhängli gezogen, nur die Schneekanonen auf den Wiesen lassen erahnen: Bald geschieht hier Grosses.
In diesem Zustand zwischen Ruhe, Sturm und Gschtürm schwebt an diesem Sonntag Mitte November auch Viola Amherd, 56. Die CVP-Nationalrätin war offiziell nominiert für die Nachfolge von Bundesrätin Doris Leuthard – und wurde im ersten Gang gewählt. Sie konnte sich somit gegen die Urner Regierungsrätin Heidi Z’graggen durchsetzen.
«Das Rennen ist völlig offen», sagte Amherd noch vor der Wahl bei einem Glas Chardonnay auf dem Balkon ihres Chalets. Als Kind verbrachte sie den ganzen Sommer auf der Bettmeralp, spielte Indianer oder mummelte sich mit einem Buch auf dem Sofa ein. «Ein Tag hier oben ist wie eine Woche Ferien», sagt sie und streckt ihr Gesicht in die Frühwintersonne. Vor ihr liegt die Bergkette aus Dom, Matterhorn und Weisshorn, hinter ihr auf der Fensterbank sitzen einige ihrer besten Freunde.
Die Ruhe vor dem Sturm
Zusammen mit «ihrer Viola» wollen sie nochmals in Ruhe ässu, trichu, gniässu. Und natürlich zämu hengertu – plaudern. Das tun sie laut und kantig. Besonders dann, wenn es um die Negativschlagzeilen der letzten Wochen geht. Zunächst berichtete der «Walliser Bote» über eine Mietzinsaffäre, in welche die Erbengemeinschaft um Viola Amherd verwickelt ist. Dann warf die «Weltwoche» der Juristin vor, sie habe zwei Jungnotare um mehrere tausend Franken bringen wollen. Amherd streitet die Vorwürfe ab.
«Ich habe richtig mitgelitten», sagt Felix Truffer, 57, und schenkt sich noch «as Ballon» Rotwein ein. Seit 18 Jahren teilt sich der Notar mit Amherd das Büro. «Erstens», sagt er, «ist Viola alles andere als geizig. Und zweitens kann sie sich nicht wehren, weil sie dem Notariatsgeheimnis unterliegt.» René Lorétan, 57, ein enger Freund von Amherd, wirft ein: «Viola hat einen breiten Rücken, die steckt das weg.»
Amherd spricht erst, als sie sicher ist, dass die anderen fertig sind. Dann sagt sie leise: «Ich verstehe, dass die Presse bei einer Bundesratskandidatin genau hinschaut. Aber dass sie unwichtige Dinge so aufbauscht – das verstehe ich nicht.» Nachdenklich schaut sie auf ihren Teller, als ob sich die Antwort zwischen Käse und Kartoffeln verstecke.
Eine Walliserin auf dem Weg nach Bern
Gewiss ist: Amherd hat sich nie ausbremsen lassen. 1962 in Brig geboren, wächst sie quasi als Einzelkind auf – die Schwester ist 14 Jahre älter. Für ihre Eltern, die in Brig ein Elektrogeräte-Geschäft betreiben, ist Viola noch als Teenager «ds Mämmi», das Baby. Gleichzeitig bläut ihr die Mutter ein: «Bleib unabhängig, Viola. Als Frau musst du für dich allein kämpfen.»
In Freiburg studiert Amherd Jus. Nach ihrer Rückkehr ins Wallis engagiert sie sich in der Jugendkommission von Brig. Dann will die CVP sie für den Stadtrat aufstellen. Aber Amherd will nicht. «Ich musste dir ins Gewissen reden», sagt Brigitte Hauser-Süess, 64, zwischen zwei Bissen Raclette. Hauser-Süess war früher CVP-Frauenpräsidentin und Kommunikationschefin der ehemaligen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. «Du kannst nicht immer reklamieren, Frauen hätten keine Chance, und wenn die Chance dann kommt, ablehnen» – das habe sie damals zu Viola gesagt. Die Worte wirkten. Seit 1992 sitzt Amherd im Stadtrat von Brig-Glis, später ist sie zwölf Jahre lang Präsidentin der Stadtgemeinde. Seit 2005 vertritt sie das Oberwallis im Nationalrat.
Amherd setzt sich nicht nur für die eigene Familie ein
Parallel zur Politik pflegt Amherd zusammen mit ihrer Schwester die demente Mutter. «Wann ich meine Akten studierte, spielte ja keine Rolle.» Wenn sie niemanden findet, der Mama hütet, nimmt sie sie mit an Anlässe. Die Mutter stirbt 2012.
«Die Alterspolitik wird uns in Zukunft stark beschäftigen», sagt Amherd. «Nicht alle haben die Möglichkeit, für ihre Eltern zu sorgen, darum müssen wir die nötigen Strukturen schaffen.» Ein weiteres Anliegen ist ihr der Kinder- und Jugendschutz. Amherd pflegt ein enges Verhältnis zu ihrer Nichte Lia, 33. Sie selbst ist kinderlos geblieben, eine «überzeugte Ledige». Oder anders gesagt: Sie lebt maximal unabhängig. «Die CVP kennt heute – Gott sei Dank – mehrere Lebensformen», sagt Amherd, die einen Sinn für ironischen Humor hat. In Bern gilt sie als Vertreterin des linken CVP-Flügels. Sie unterstützt die Stiefkindadoption für homosexuelle Paare und den Vaterschaftsurlaub.
Nicht alle haben die Möglichkeit, für ihre Eltern zu sorgen, darum müssen wir die nötigen Strukturen schaffen
Die Ruhe vor dem Sturm überbrückt man am besten mit ein paar Schritten in der Natur. Und als sie den Hang hochstapft, mit festem Tritt und windverblasener Frisur, dreht sie sich um und sagt: «Die beste Idee meines Lebens war, dass ich nie anders sein wollte, als ich bin.»