Sie ist wieder da! Heute konnte Lara Gut zum ersten Mal seit ihrem Kreuzbandriss wieder ein Skirennen gewinnen. Die Tessinerin zeigte eine clevere Fahrt und ging damit als strahlende Siegerin von Cortina hervor. Doch die augezwungene Verletzungspause hinterliess Spuren bei Lara Gut als Skirennfahrerin und als Mensch.
Ende September 2016, Mittelstation Felskinn in Saas-Fee. Interview und Fotoshooting mit Lara Gut, der ersten Schweizer Gesamtweltcup-Siegerin seit Vreni Schneider 1995. Sie plaudert, wirkt gelöst, scheint mit ihrem Leben als Spitzenfahrerin im Rampenlicht Frieden geschlossen zu haben. «Früher war es nur ein Reagieren, heute ein Agieren», sagt Gut über ihr Leben. Dass so viele Leute mit ihr mitfieberten und sie durch den Erfolg so gefragt sei, sei eigentlich eine schöne Situation, die sie geniessen wolle. Und nicht, «dass sie mich frisst. Heute weiss ich, wann ich Ruhe brauche und stopp sagen muss.» Das war vor eineinhalb Jahren.
Es war eine nur vermeintliche Reife, ein nur vermeintliches Angekommensein. Denn genau in diesem Winter passiert, was sie vermeiden wollte: Gut kann nicht genügend oft stopp sagen, es wird viel – und dann zu viel, ohne dass sie Gegensteuer geben kann. Sie fühlt sich, als würde sie den ganzen Tag allem hinterherrennen. Gut drei Wochen nach ihrem Kreuzbandriss an der WM in St. Moritz schreibt sie schliesslich in einer Kolumne in «Le matin dimanche»: «Mein Instinkt hat die Lösung gefunden: Ich habe mich am linken Knie verletzt.»
Wusste sie vor eineinhalb Jahren nicht, dass sie die Balance doch nicht hatte? Oder wollte sie es sich nicht eingestehen? Lara Gut, im September 2017, diesmal in Zermatt, blickt zurück. «Innerlich spürt man etwas. Aber auf der Piste denkst du nicht mehr daran.» Im Sommer nach dem Gesamt-Weltcup sprachen alle nur noch von der Kugel, fragten nicht, wie es ihr als Mensch ging; «ich fühlte mich wie ein Objekt.» Sie spürt, dass sie etwas ändern muss, und versucht es, schafft es jedoch nicht. Bis der Körper einen Ausweg aus der Situation findet, in der sie selbst nicht mehr die Kontrolle hat. Schon am Tag nach dem Unfall ist in ihren Augen klar, dass die Verletzung kein Zufall ist.
Zwischen Skischätzchen und Superzicke
Lara Gut nennt es ihre ganz persönliche Challenge: Alles, was der Erfolg mit sich bringt, raubt ihr Energie. «Jeder hat eine andere Herausforderung – die grosse Challenge meines Lebens ist es, die Balance zwischen Skifahren und Ansprüchen, zwischen Privatleben und Öffentlichkeit zu finden.» Damit kämpft sie, seit sie mit 16 Jahren in die Weltspitze fuhr und überfordert war, was alles über sie hereinbrach. Bei Interviews legte sie mal ihr Herz offen, mal antwortete sie kaum mit mehr als ja und nein. Sich selbst zu finden, während sie von der Öffentlichkeit abwechselnd als Skischätzchen und Superzicke gesehen wurde, fiel ihr schwer.
Den ganzen Tag lang Reha
Und so eröffnet ihr die zweite schwere Verletzung nach der Hüftluxation im Jahr 2009 unverhoffte Perspektiven: Ruhe finden. Sich selbst finden. Es gibt nur ein wackliges Video vom Moment, der ihr Jahr verändert: Schneetreiben, es ist die Zeit zwischen Kombinations-Abfahrt und -slalom an der Heim-WM in St. Moritz, Gut fährt sich ein. Es ist kein spektakulärer Sturz, doch weiss sie sofort, dass etwas kaputt ist. Ein Kreuzbandriss kostet etwas sechs Monate, und Gut spürt schnell, dass die Verletzung eine Möglichkeit ist, endlich Zeit zu haben. Schon am Tag darauf sind die Filmer einer Dokumentation über sie bei ihr am Krankenbett. Die Heim-WM hätte der Abschluss des Projekts sein sollen, doch der Unfall fügt ein weiteres Kapitel hinzu. Lara sei gefasst gewesen, erinnert sich die Crew, und bereits voller Pläne, wie es weitergehen soll.
«Ich wollte keinen Tag vergeuden», sagt sie. Doch bei aller Überzeugung, dass die Verletzung für sie und ihren Körper der einzige Weg war, Ruhe zu finden: Gut geht nicht so weit, den Unfall als Erleichterung zu empfinden. Aber als Chance. Es sind sechs kurze, lange Monate.
Intensive Therapie
Manchmal wird sie um 8 Uhr zur Therapie abgeholt und ist erst um 20 Uhr wieder zu Hause, im Schnitt hat sie in den ersten drei Monaten sechs Stunden Therapie täglich. Physiotherapie mit Übungen und Stretchen, Massagen, Osteopathie, Regeneration mit einem Gerät, das Kälte- und Kompressionstherapie verbindet. Guts Chirurg Olivier Sigrist erhält zahlreiche Anfragen mit der Bitte um dieselbe Operation wie jene erfolgreiche bei Lara Gut, doch das ist nicht möglich, jedes Knie ist ein Einzelfall. Hat Gut Kontakt mit Skifahrern wie ihrer Freundin Anna Veith, die ebenfalls Erfahrung mit Verletzungen haben, gehts weniger um konkrete Tipps als darum, wie sie sich fühlen oder mit der Pause umgehen. Lara Gut selbst vertraut ihrem medizinischen Team voll und ganz. Sie selbst kann erst beim ersten Schneetraining nach sechs Monaten wieder beurteilen, was ihrem Knie guttut. (Red.: Inzwischen hat Lara Gut entschieden, wieder Rennen zu fahren. Heute Sonntag gewann sie den Super-G in Cortina.)
Glace essen um Mitternacht
Trotz des intensiven Reha-Programms merkt die Tessinerin: Zum letzten Mal hatte sie so viel Zeit für sich, als sie minderjährig war. «Ich habe realisiert, dass ich 26 Jahre alt bin, eine Frau geworden bin.» Mehrere Anfragen, sie in ihrem Aufbauprozess zu treffen, mit ihr über ihre Fortschritte und Gefühlslage zu sprechen, lehnt sie ab. Sieben Monate lang spricht sie nicht mit den Medien. Sie schiebt auch mal etwas auf, um ein Buch zu lesen, was die Perfektionistin vorher nie getan hätte. Sie realisiert, dass sie nicht von morgens bis abends 100 Prozent geben kann. Und sie trifft sich spontan mit Freunden, isst um Mitternacht Glace und geniesst Filmabende mit gutem Essen bei sich zu Hause. «Das alles kann man auch unverletzt machen», das sei ihr klar, «doch ich brauchte diese lange Verletzungszeit, um zu sehen, dass das wirklich geht. Dass das eine bewusste Entscheidung ist», keine aufgedrängte. Vorher war immer die Athletin im Fokus, nicht die Frau. «Dabei ist der Mensch wichtiger.»
Ein anderer wichtiger Prozess, den sie in diesem Halbjahr durchläuft, betrifft ihre Familie. Sie zieht von zu Hause aus, bringt zum ersten Mal Distanz zwischen sich und ihre Eltern. Der neu gewonnene Raum tut allen gut, da er Platz für Eigenständigkeit schafft und dadurch die Familie noch enger zusammenbringt. Vor allem ist Paul Gut in dieser Zeit zum ersten Mal nur Vater, nicht mehr Vater und Trainer. «Ich habe ihn verloren und nun wiedergefunden», sagt seine Tochter sogar. Im Lauf der Jahre war der Weg von Lara Gut oft kritisiert worden, nämlich ihr Ziel mit einem eigenen Team zu verfolgen und den Vater – eigentlich Lehrer – als Trainer zu haben. Zwar wirkten die beiden stets wie ein eingeschworenes Team, doch die Kritik hinterliess auch in der Vater-Tochter-Beziehung Spuren.
Nun geht es Lara zwar gut, doch sie steht vor dem wohl schwierigsten Teil: Sie muss aufpassen, dass sie nicht wieder am Anschlag läuft. Die Ansprüche von Fans, Medien und Sponsoren werden ebenso wenig schrumpfen wie die Verpflichtungen, die sie als Weltspitze-Fahrerin und regelmässige Siegerin hat. Sie wird sich nicht allem entziehen können. Und weiss, dass die Gefahr besteht, in alte Muster zurückzufallen, wenn sie nicht jeden Tag Prioritäten setzt.
Der Druck im Skisport ist gross
Zahlreiche erfolgreiche Fahrer monieren, dass der Weltcup-Kalender übervoll sei, was Verletzungen durch Überlastung begünstige. Auch Gut erzählt in der «NZZ am Sonntag», dass sie mit Anna Veith und Tina Maze festgestellt habe, dass sie nach ihren Gesamtweltcup-Siegen kraftlos und leer gewesen seien. «Aber was sollen wir tun? Die FIS fragen, ob sie uns eine Verletzungspause wegen eines Burn-outs gewährt? Der einzige Weg, um zur Ruhe zu kommen, ist, sich zu verletzen.» Oder eben etwas zu ändern. Ob sie sich vorstellen könne, sich beim Weltverband FIS für Anliegen wie ein weniger dichtes Rennprogramm einzusetzen, darauf möchte sie nicht antworten. Freiwillig die sportliche Konsequenz der Überlastung ziehen und einzelne Rennen oder Disziplinen auslassen, wie es etwa Lindsey Vonn oder Beat Feuz tun, will Gut nicht: «Ich liebe das, was ich auf den Ski leisten kann. Ich möchte ausserhalb der Piste ein besseres Gleichgewicht finden, damit ich im Schnee immer in der Lage bin, das zu tun, was ich liebe.»
Die Abstriche müssen woanders gemacht werden. Ein Beispiel: In Zukunft wird sie Pressekonferenzen nur noch auf Englisch geben, damit die fünffache WM-Medaillengewinnerin keine Energie dabei verliert, ihre Antworten in vier Sprachen zu geben. Die Zeit für Kommunikation, Interviews und Social-Media-Kanäle möchte sie optimieren, Termine auf die wichtigsten beschränken. Und sich bewusst Zeit für sich nehmen; ein Buch ist jetzt immer dabei. Die grösste Herausforderung im Moment ist jene, die Balance in ihrem Leben zu finden. Nicht bloss vermeintlich, sondern richtig.