Seine Hand zittert. Eine Folge der vielen Medikamente, die er täglich nimmt. Walter Wegmüller hat eine geschädigte Leber und kaputte Nieren. 45 000 Tabletten schluckte er bisher. Besser wurde die Krankheit nicht. Aber auch nicht schlimmer. Der Mann an der Staffelei malt, statt zu klagen. Die Kunst lässt seine Vergangenheit verblassen und ihn von der Zukunft träumen.
Die Gegenwart meint es gerade gut mit ihm. Am 25. Februar wurde Wegmüller 80 Jahre alt. Grund für das Museum im Lagerhaus in St. Gallen, der schillernden Persönlichkeit eine Retrospektive zu widmen. Schlüsselwerk der Ausstellung (bis 12. November) ist «Der Frontfüssler», ein Fabelwesen mit aufgerissenem Maul, zwei Köpfen und vier Pranken. Im Körper sind kleine Menschenleiber versteckt.
Der Autodidakt schuf das Monster 1968/69. Damals war er ein gefragter Maler, verkehrte in Intellektuellen-Kreisen. Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt lernte er in der Kunsthalle in Basel kennen. Der wollte sein Atelier sehen, kaufte ihm das Meisterwerk für 15'000 Franken ab. «Viel Geld für einen, der spielte, zoffte und soff. Trotzdem tat es mir leid, dass ich mich vom Bild trennte. Später kaufte ich es Dürreli für denselben Betrag zurück: Ich hatte es einfach noch nicht verdaut.»
Wie verdaut man eine Kindheit, die von Schlägen und Angst geprägt ist, von Verlassensein, Ohnmacht, Ungerechtigkeit? Wegmüller schliesst die wasserblauen Augen. Öffnet er sie wieder, ist sein Blick noch wässriger. Walterlis Höllenritt beginnt nach der Geburt. Seine Mutter ist eine Fahrende aus der Sippe der Kalderasch-Roma. Die Zwangsadoption, die keine ist, findet nicht im Rahmen der Pro-Juventute-Stiftung «Kinder der Landstrasse» statt.
Für die Behörden ist seine Mutter ein ganz normaler Fürsorgefall: jung, jenisch, unverheiratet. Er kommt ins Heim. Mit vier holt ihn der erste Bauer als Verdingbub nach Aegerten BE auf den Hof – zum Arbeiten. Die Kammer teilt er sich mit Ratten und Mäusen. Gegen die Leere im Bauch stiehlt er im Schweinetrog Haferflocken. «Sauzigüner» ist noch das Harmloseste, was er zu hören kriegt. Und wer nicht hören will, muss bekanntlich fühlen!
Meine Kindheit wünsche ich niemandem. Die Fantasie war ein Fenster zur Freiheit.
Der Knirps wird von den Landwirten so heftig verprügelt, dass er bis heute die körperlichen Schäden der unmenschlich masslosen Strafen spürt. Die obligatorischen Schuljahre kann er nicht absolvieren, weil er zu oft fehlt. Unterstützung vonseiten des Lehrers erhält er kaum. «Ich war so federleicht und schmächtig, dass er mich regelmässig am Schopf packte und mir die Haare büschelweise ausriss.» Als sich die Schulbehörde einschaltet, öffnet Walter seinen Tornister, in dem er die Haare sammelte. «Man hätte mir sonst trotz der kahlen Stellen nicht geglaubt.»
Ich glaube, dass ich gegenüber den verhätschelten Kindern einen Vorteil hatte und eine innere Stärke entwickelte.
Es ist erstaunlich, wie viele düstere Etagen die menschliche Seele hat. Jedes Mal, wenn Wegmüller denkt, er sei mit dem Fahrstuhl im Keller angekommen, fällt er noch ein Stockwerk tiefer. Trotzdem fasst er einen Entschluss: «Ich schuf mir in meiner Fantasie ein Fenster in die Freiheit.»
Das Verhöhnen seiner Herkunft spornt ihn an, mehr über seine Wurzeln zu erfahren. «Ich glaube, dass ich gegenüber den verhätschelten Kindern, denen durch Berge von Süssigkeiten der Geschmack geraubt wird, einen Vorteil hatte und eine innere Stärke entwickelte.»
So oft er kann, schleicht er sich raus in den Wald, malt Tiere und Pflanzen – und sucht die Fahrenden in ihrem Lager auf. Wie ein unsichtbares Band ist diese Verbindung zum geächteten Volk der Seeländer Korber und Kessler; geheimnisvoll und trostspendend zugleich. «Die Zigeunermutter sah aus wie ein Engel mit ihrem schwarzen Haar.»
Seither bringt Wegmüller seine Empfindungen auf die Leinwand. Auch die Tarotkarten mit ihren fremdartigen Zeichen und Symbolen brannten sich ins Herz ein. Jahre später wird er mit zwei von ihm gestalteten Kartensets die Menschen rund um den Globus begeistern. «Wenn man nie eine Mutter umarmen durfte oder von ihr umarmt wurde, ist man abgestumpft, die Hoffnung auf ein Wiedersehen schwindet», resümiert er, der das 45. Mündel seines Vormunds war. Ans Aufgeben dachte er nie.
Wenn man nie eine Mutter umarmen durfte oder von ihr umarmt wurde, ist man abgestumpft, die Hoffnung auf ein Wiedersehen schwindet.
Mit 22 stösst der gelernte Flachmaler endlich auf eine «heisse Spur», wo seine Mutter sein könnte. «Mein Vormund verplapperte sich.» Verschollen, krank, in der Psychiatrie: Das bösartige Lügenkartenhaus der Behörden fällt in sich zusammen. Er macht sich auf den Weg. Und dann steht sie vor ihm. An einem Stand im Zürcher Oberland mit Uhren, Knöpfen, Schmuck – und Sonnenbrillen. «Eine nach der anderen setzte ich auf, bis sie mich fortjagen wollte. Ich sagte nur den einen Satz: ‹Darf der Jahrgang 1937 nicht probieren, was er will?›» Die Frau schaut ihrem verlorenen Sohn in die Augen und sagt: «Du bist mein Walterli!»
Der Moment rührt ihn noch heute. Seine Halbschwester lernt er damals kennen. Mit seinen Stiefbrüdern hingegen kommt nie ein Kontakt zustande, weil seine Mutter ihn darum bittet. «Es mag seltsam klingen, doch ich habe ihren Wunsch immer respektiert.» 2018 soll Walter Wegmüller endlich entschädigt werden für die geraubte Kindheit als Verdingbub.
Ich hatte Frau Sommaruga gebeten, schneller zu handeln. Die meisten von uns sind alt, krank oder tot.
«Ich hatte Frau Sommaruga gebeten, schneller zu handeln. Die meisten von uns sind alt, krank oder tot.» Der Zustupf kommt dem ehemaligen Präsidenten der «Radgenossenschaft der Landstrasse» recht. «Es ist Zeit, Junge», «Das offene Herz», «Der Gedemütigte» heissen die Bildertitel. Man kann in ihnen wie in einem Buch lesen. «Ich hätte mit meinem Fundus zwei Museen füllen können», sagt das Multitalent und hofft, bis zum Ende der Schau noch das eine oder andere Werk zu verkaufen.
Um die schmale Pension aufzubessern, legt er Tarotkarten. Zu seiner Klientele gehören Banker, Ärzte und hohe Militärs. Zweimal war er verheiratet. Mit seinen zwei Söhnen pflegt er ein gutes Verhältnis. Heute lebt er alleine in Basel und ist längst sesshaft – von aussen betrachtet.
Sind wir letztendlich nicht alles Fahrende?
«Selbst wenn sich Menschen Paläste bauen, die Jahrtausende überdauern: Es gibt auf der Erde für keinen ein Bleiben.» Wegmaler Wegmüller hat schon recht, wenn er das Leben als ein ständiges Unterwegssein bezeichnet. «Sind wir letztendlich nicht alles Fahrende?»