Playa de Muro, 6.45 Uhr. Die aufgehende Sonne glitzert im Wasser, es weht ein angenehmer Wind. Nur einzelne Touristen nutzen die Kulisse für Selfies am Strand. Auch Skirennfahrerin Wendy Holdener und ihre Teamkolleginnen geniessen die Morgenstimmung – während des Yogas, der ersten Trainingseinheit des Tages. «Ich liebe es hier, es ist ein idealer, sanfter Wiedereinstieg», sagt Holdener über das zehntägige Konditions-Trainingslager auf Mallorca.
Sanft heisst für die dreifache Olympiamedaillen-Gewinnerin von Pyeongchang: Täglich vier bis sechs Stunden Sport, von Yoga über Radfahren – insgesamt 750 Kilometer und 7000 Höhenmeter – bis Kraft- und Stabilisationstraining. «Okay, ich gebe zu, ich bin ein Hüüfeli Elend, habe überall Muskelkater. Doch ich liebe es, am Meer zu trainieren.»
Wendy Holdener, was ist Ihr Antrieb, sich bereits wieder im Sommertraining zu quälen?
Ich kann an mir selber arbeiten, das liebe ich. Ich will immer besser werden, besser zum Körper schauen. Ich will noch lange Skifahren. Und wenn ich gesund bleibe, kann ich noch gut acht bis zehn Jahre fahren. Ich habe viel Luft nach oben!
Das sagt eine, die diesen Winter praktisch bei jedem Slalomrennen auf dem Podest stand und einen Olympia-Medaillensatz abgeräumt hat!
Es gibt ja auch noch die Speed-Disziplinen! Ich kann mich technisch verbessern, und ich arbeite daran, dass meine Hüfte stärker und mein Rumpf stabiler werden. Ich hatte noch nie zwei perfekte Läufe in einem Rennen. Das liegt wohl am Kopf.
Ich hatte mit mir zu kämpfen und war am Limit
Wie meinen Sie das?
Ich zweifle oft, wenn nicht alles planmässig läuft. Ich habe grosse Fortschritte gemacht, aber manchmal bin ich nichtdiszipliniert und falle ins alte Denkmuster zurück.
Ein Beispiel?
Ich habe momentan ein wenig Schmerzen an der Achillessehne. Ich mache mir gleich Sorgen, statt einfach einen ruhigen Tag am Strand zu verbringen.
Vermissen Sie den Schnee?
Nein, wirklich nicht! Ich fahre ja supergern Ski, aber ich bin der Wärme-Typ, liebe das Wasser und geniesse es, mal nicht zufrieren. Die drei Monate Schneepause brauche ich. Der Olympiawinter war sehr anstrengend.
Wie haben Sie Energie getankt?
Ich war nach dem Weltcupfinale in Dubai, das war cool! Nach dem letzten Trainingsblock hatte ich nochmals Ferien, doch leider hatte niemand in meinem engeren Umfeld Zeit, mit mir zu verreisen. Ich habe also zu Hause Sachen erledigt: Fanpost, Rechnungen bezahlen, mit Kolleginnen ins Kino oder essen – alltägliche Dinge.
Wie war das?
Schön! Ich habe gemerkt, dass ein solch normales Alltagsprogramm auch streng ist (lacht).
Ausdauer ist nicht meine Stärke. Das Training liebe ich trotzdem
Wenn Sie jetzt mit ein bischen Abstand auf Olympia zurückblicken: Welcher Moment ist Ihnen am stärksten in Erinnerung?
Schwierig zu sagen. Es ist wohl der Slalom. Generell blicke ich mit innerer Ruhe zurück. Ich hatte so viele Hochs und Tiefs, dass sich die Emotionen ausgleichen.
Die Öffentlichkeit bekam nur die Hochs mit. Was waren die Tiefs?
Ich kam mit grossem Druck an die Spiele. Dann kamen die Rennverschiebungen und das eine oder andere schlechte Training hinzu. Ich stritt mit meinem Servicemann, das mache ich normalerweise nie. Er meinte: «Was ist los, wieso tust du so kompliziert?» Da wurde mir bewusst, wie angespannt ich war. Ich hatte mit mir zu kämpfen und war am Limit.
Wie konnten Sie den Schalter im richtigen Moment umlegen?
Ich habe probiert, mich möglichst gut zu entspannen, mich aufs Positive zu konzentrieren und alles nüchtern anzusehen. Ichhatte zum Beispiel die ganze Saison nie so eine Ruhe, habe den ganzen Winter nie so gut geschlafen wie in Südkorea. Ichwurde erstaunlicherweise erst nach dem Aufwachen nervös. Meine Trainer und Betreuer schauten, dass ich in den Trainings nicht zu viel mache, und sagten: «Du bist gut eingefahren, das reicht!» Irgendwann merkte ich, dass ich nun bereit war, Grosses zu leisten. Dann kamen die Rennabsagen, wodurch es definitiv nicht besser wurde mit der Nervosität. Am Tag des Slaloms war es dann richtig schlimm.
Wie äusserte sich das?
Ich schaute wohl etwas verwirrt und abwesend drein. Als mich meine Betreuer am Start gesehen haben, hätten sie wohl nichtauf mich gewettet. Sie sagten dann: «Komm, reiss dich zusammen.»
Die Rennabsagen beeinflussten auch die Pläne Ihrer Familie. Ihr Bruder musste auf dem Küchenboden schlafen. Wussten Sie das?
Ich konnte es mir denken, aber ich habe mich nicht gross damit beschäftigt. Ich sagte ihnen von Anfang an: «Kommt, wenn ihr möchtet. Aber nicht, weil ihr denkt, dass ich euch unbedingt brauche.»
Hat Ihnen ihre Anwesenheit trotzdem geholfen?
Ja. Dank den Rennverschiebungen konnten wir zweimal gemeinsam essen und ich etwas wegkommen von allem. Es war auch schön, weil es sonst nicht viele Fans hatte. Obwohl: Ich war froh, war es nicht wie an der Heim-WM in St. Moritz. Der Rummel dort hat mich fast zerdrückt.
Und Sie fielen danach in ein Loch. Wie war es nach Olympia?
Viel besser. Ich war besser auf alles vorbereitet.
In Ihrer Heimat Unteriberg steht an jeder Ecke Ihr Name. Fühlen Sie sich manchmal eingeschränkt?
Ich gebe zu: Nach Olympia habe ich die Öffentlichkeit für zwei Wochen gemieden und mein Mami gefragt, ob Sie mir Dinge im Dorf besorgt. Sonst nicht. Ich gehe auch verschwitzt in Trainingskleidern einkaufen. So kennt man mich. Es freut mich, dassich in der Heimat so unterstützt werde.
Sie sind 25. Haben Sie Pläne, demnächst von zu Hause auszuziehen?
Noch nicht. Ich fühle mich wohl zu Hause und schätze die Unterstützung meiner Eltern bei kleinen alltäglichen Aufgaben.
Ich bin ein Hüüfeli Elend und habe überall Muskelkater
Ihren Freund Nico haben Sie lange aus der Öffentlichkeit rausgehalten. Nun geben Sie immer ein wenig mehr preis. Wo ist die Grenze?
Er gehört zu meinem Leben und ist auch oft bei Rennen dabei. Es wäre anstrengend, das zu verstecken. Doch wir sind nicht die, die einen Fotografen in die Ferien mitnehmen oder auf Social Media Pärchenbilder posten (lacht).
Apropos soziale Medien: Wie gehen Sie mit bösartiger Kritik um?
Ich lese nicht alle Online-Kommentare. Aber vor Olympia habe ich einen Hassbrief erhalten. Das hat mich beschäftigt. Mein Bruder Kevin sagte dann: «Was, nur einen? Dann ist ja gut.» So konnte ich selber darüber lachen.