Ein schneller Blick nach links, ein kurzer Augenschein nach rechts – und schon stiehlt sich Marcus Signer, 53, an der verwitterten Holzfassade entlang durch den verlassenen Stall. Von den Besitzern des Hauses auf dem Urnerboden weit und breit keine Spur. Alle Fenster sind verrammelt, nur mit einem Trick lässt sich die Stalltür öffnen.
Marcus Signer kennt den Trick, er kennt das Haus und die Besitzer. Vor gut einem Jahr stand der Berner Schauspieler als Bundespolizist Manfred Kägi hier auf 1372 Metern über Meer für das neue SRF-Krimidrama «Wilder» vor der Kamera. Im Winter leben nur 26 Menschen in der kleinen Siedlung. Eine aufmerksame Nachbarin hat die «Heimlich durch den Stall schleich»-Aktion beobachtet, eilt herbei. Als sie sieht, wer ums Haus streift, ist sie beruhigt.
Angst und Schrecken – dafür hat Signer früher, als er jung war, oft gesorgt. Da war er ein bisschen auf die schiefe Bahn geraten. Liess da mal was mitgehen, knackte dort einen Zigarettenautomaten, stieg irgendwo ein. An eine dieser Jugendsünden erinnert er sich, als wäre es gestern passiert: «Ich wollte in einen Kiosk, landete aber in der Garderobe einer Wohnung in der Berner Altstadt.»
Dort findet er Geld – und stöbert weiter. «Ich streichelte eine Katze, als plötzlich eine Frau vor mir stand, nackt!» Als sie den Jungen erblickt, schreit sie. Marcus schreit auch, flieht durchs Fenster aufs Dach. «Ich hörte nur noch, wie sie rief: Schiess!» Dann vernimmt er ein dumpfes «Tuck, tuck». «Wer immer da geschossen hat, er zielte daneben.»
Busse tut Signer für die «Sünden» auf einer Alp in Zweisimmen. Ein Berner Jugendrichter schickt ihn für einen Sommer zum Arbeiten rauf. «Meine Mutter wollte das Beste für mich. Weil ich noch minderjährig war, blieb dem Jugendrichter keine andere Wahl.» Lausbub Marcus gestand ihm zuvor alles, was er ausgefressen hatte.
Hart arbeitet er auf der Alp. «Jeden Tag wurde Käse und Butter gemacht.» Marcus holt die Kühe von der Weide zum Melken, macht im Wald Holz. «Es war eine gute Zeit», erinnert er sich. Er trocknet Kräuter, dreht sich daraus Zigaretten, die ihm schnell verleidet sind. Nach einem halben Jahr muss er wieder gehen.
Ich habe viel Scheisse erlebt und bin oft beschissen worden
«Es war der ideale Ort für Leute wie mich, die mal auf den Boden der Realität heruntergeholt werden mussten.» Aus einer anderen Jugendeinrichtung, der Fondation La Clairière im Waadtland, läuft er mit Kollegen «wegen einer Ungerechtigkeit» davon.
Marcus Signer ist erst 14, als er von zu Hause verschwindet. Er taucht in den damals besetzten Häusern an der Berner Taubenstrasse unter, jobbt als Tellerwäscher und Gerüstbauer. Die Hochbauzeichner-Lehre bricht er ab. «Ich habe viel Scheisse erlebt und bin oft beschissen worden», sagt er heute.
Signer will Schauspieler werden. Signer hat Talent
Zur Schauspielerei kommt er eher zufällig, weil er Künstler des Berner Theater 1230 kennenlernt. «Ich wusste gar nicht, dass man in der Schweiz Schauspieler werden kann, dachte, dass man entdeckt werden muss.» Als Signer zwei Wochen Theaterluft schnuppern darf, wird ihm klar: «Ich will Schauspieler werden!»
Dafür muss er aber erneut bei seiner Mutter einziehen. Und muss für die Kosten der Schauspielausbildung selbst aufkommen – 600 Franken monatlich. Signer jobbt morgens bei McDonald’s, besucht nachmittags die Schauspielschule und steht schon nach zwei Monaten abends bei ersten Aufführungen auf der Bühne. Signer hat Talent.
Vor allem Figuren mit Ecken und Kanten mimt er überzeugend. Als Bundespolizist Kägi spielt er in «Wilder» den blasierten Einzelgänger, bei dem alle vermuten, dass er homosexuell ist. «Ich mag herausfordernde Rollen», sagt Signer, der im realen Leben alles andere als arrogant auftritt und «durchs Band heterosexuell ist». Er ist verheiratet mit Julia Monte, auch sie Schauspielerin. Sie haben sich getrennt.
Sein Leben ist ein Auf und Ab. Signer spielt in den 1990er-Jahren im «Tatort», steht an der Seite von Stars wie Dietmar Schönherr, Bruno Ganz und Gudrun Landgrebe vor der Kamera. Dann verschwindet er in der Versenkung. Taucht furios vor vier Jahren wieder auf im preisgekrönten Film «Der Goalie bin ig», wird als bester Darsteller mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet.
Auch heute ist Bares manchmal knapp
Danach wird es wieder ruhig um ihn. Er hätte Karriere machen können – auch im Ausland. «Ich weiss, ich habe es verpeilt», sagt er. Er hätte sich ja nur einen Agenten suchen müssen. Oder denen, die ihn kontaktierten, wenigstens seine Unterlagen schicken können. «Aber so administrative Sachen mache ich ungern.»
Resigniert hat er deshalb nie. «Es kommt, wie es kommt, ich bin zufrieden und trauere dem nicht hinterher.» Das ist Marcus Signer. Er macht sich auch nicht viel aus Geld, hat oft von der Hand in den Mund gelebt. Auch heute ist Bares manchmal knapp. Andere Dinge sind ihm wichtiger.
Zu malen etwa, was er seit seiner Kindheit tut: Zeichnungen, Aquarelle – auch Ölbilder. Er macht zudem gern Musik, spielt Gitarre, Klavier, Bass und Schlagzeug. Damit könne er verschollene Energien ankurbeln. «Fühle ich mich ausgelaugt, macht mich die Musik wieder heiter.» Signer hat die dunklen Seiten des Lebens gesehen. Er wächst ohne leiblichen Vater auf, der Stiefvater hat «nicht viel übrig» für ihn und den zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder.
Gehts weiter mit «Wilder» für Marcus Signer? «Ich weiss es nicht.» Bei den Zuschauern sind die ersten Folgen sehr gut angekommen. Er stünde auf jeden Fall parat, erneut in die Rolle des Bundespolizisten Kägi zu schlüpfen. «Auch bei dieser Figur gibts nur eine Mutter und keinen Vater. Ein bisschen lehnt sich seine Geschichte an meine eigene an.»