Schon oft wurde ich gefragt, was sich in mir nach meinem Unfall an der Ski-WM 2017 verändert hätte und was anders sei, seit ich verheiratet bin.
Zweifellos bin ich eine andere Person. Ich bin gewachsen gegenüber der, die ich vorher war, habe mich verschiedentlich verändert und lebe mein Leben mit neuen Augen. Ich habe das Glück, dass ich in einer Familie aufgewachsen bin, die viel miteinander teilt. Wir haben zahlreiche Momente zusammen verbracht, in den Ferien, zu Hause, an den Wochenenden. Meine Eltern haben uns in dem Gefühl erzogen, vereint zu sein und geliebt zu werden. Und sie haben uns die Kraft vermittelt, die einem nur eine Familie und die Menschen, die einen lieben, geben können.
Die Suche nach dem Lächeln
Als Kind trug ich den Spitznamen Sunshine, weil ich oft lächelte. Ich glaube nicht, dass ich immer glücklich war. Ich glaube vielmehr, dass ein Lächeln auf den Lippen meine Art war, das Leben und seine Hindernisse zu meistern. Dieses Lächeln habe ich auch in verschiedenen Szenen von «Looking for Sunshine» gesucht – dem Dokumentarfilm, der mein Leben nach meinem Gewinn des Gesamtweltcups 2016 und der Knieverletzung erzählt.
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In diesen Jahren fühlte ich, dass ich mich ein wenig verirrt hatte. Ich suchte nach dem Sonnenstrahl und wusste nicht, wo er geblieben war. Ich fuhr Ski, was ich immer geliebt habe. Ich hatte den Erfolg, für den ich schwer gearbeitet hatte. Und meine Familie stützte mich und folgte mir immer. Aber das alles genügte nie. Es genügte mir selber nie.
Ich hatte einen grossartigen Traum in etwas Bedrückendes verwandelt
Ich hatte einen grossartigen Traum in etwas Bedrückendes verwandelt und wusste nicht, wie ich den Spass, die Freude, die Leidenschaft, die mich immer ausgezeichnet hatten, wiederfinden konnte.
Der Weg zurück
Auf der Suche nach dem «Sunshine» habe ich meine glücklichen Mädchenaugen aus den Tagen wiedergesehen, die ich mit meiner Familie verbrachte, das Lachen mit meinem Bruder, die Bewunderung für meine Eltern und ihre grenzenlose Unterstützung. Die Stimme meines Vaters hinter der Filmkamera, als ich fünf war, ist die gleiche, die mich heute auf der Piste begleitet. Die Umarmung meiner Mutter, wenn ich ins Haus trete, ist die gleiche wie damals. In den ersten Skitagen nach dem Unfall habe ich dieses Lachen wiedergefunden, es war schlicht und einfach die Freude, wieder Skifahren zu können.
Ich habe aber auch Momente gesehen, in denen ich traurig war, weil mir nichts genügte. Meine Lust am Träumen und mein neugieriges Wesen hatten sich in ein Gefühl des ständigen Suchens verwandelt. Ich begann mich unwohl zu fühlen und nie zufrieden zu sein. Ich lief von allem davon und fand nur noch auf den Ski den vermeintlichen Frieden. Aber davonlaufen und sich nicht stellen heisst, das eigene Leben nicht anzunehmen. Und ich habe verstanden, dass jene Träume, die uns Sachen machen lassen, die wir nie für möglich gehalten hätten, die uns besser werden lassen als wir schon sind, respektiert, zu 100 Prozent gelebt und verwirklicht werden müssen.
Ich hatte einen Traum
Als Kind träumte ich davon, Ski zu fahren, zur Schule zu gehen und gute Noten zu bekommen – um ehrlich zu sein, die höchsten. Ich war neugierig und wollte tausend neue Orte entdecken. Ich wollte immer noch mehr wissen. Als Teenager strebte ich danach, immer schneller zu werden, schneller voranzukommen und in meinem Sport zu brillieren. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, da ich immer abwesend war. Aber ich wollte die Matura machen, träumte, sie zu bestehen. Und es gelang mir auch. Auf meine Art, wie immer, aber ich habe einen weiteren Traum verwirklicht, der in meiner Schublade lag.
Ich bin so. Ich träume, entscheide, lege los, mache – und nachher stelle ich mich Schritt für Schritt allen Hindernissen, weil ich mich ständig ansporne, indem ich mir sage: Du hast es gewollt – nun hole es dir. Ich vertraue dem Instinkt, und es ist der Instinkt, der mir immer meinen Weg gezeigt hat.
Sich wiedergefunden ohne Fluchtweg
Manchmal brauchen wir im Leben ein starkes Erlebnis, um aus der Routine zu treten, aus der Apathie. Oder einfach, um unser Leben in eine neue Bahn zu lenken. Mein Unfall war meine Möglichkeit, meine Träume und meinen Sonnenschein wiederzufinden. Denn sechs Monate ohne Ski waren eine Ewigkeit. Ich habe mich wiedergefunden. Und das ohne meinen einzigen Fluchtweg – das Skifahren – , der mich früher glauben liess, alles habe einen Sinn.
Der Unfall hat mich aufgehalten, hat alles durcheinandergebracht
Warum soll ich morgens aufstehen, trainieren, mich verbessern, wenn ich dann nicht skifahren kann? Der Unfall hat mich aufgehalten, hat alles durcheinandergebracht. Sechs Monate ohne Ski, das ist eine Ewigkeit. Aber doch zu kurz, um die Karten ganz neu zu mischen und mir einen neuen Weg zu skizzieren.
Tagtäglich Lara
Jene Zeit habe ich nur deshalb gut überstanden, weil ich das Glück hatte, Menschen um mich zu haben, die mich liebten und die mir sehr halfen, mich in die richtige Richtung zu führen. Man sprach über die Lara, die sich auf dem Gipfel ihrer Karriere verletzte. Ich war aber tagtäglich Lara. Eine 27-jährige Frau, die langsam wieder Vertrauen in sich und ihr Knie gewann. Ich war die Lara, die mit dem Velo in die Physiotherapie fuhr, die im Hause der Mutter einen Kaffee trank, die Sauerteig machte und Grissini und Panini für alle buk.
Wenn ich siege, werde ich vermutlich gelobt. Wenn ich schlecht fahre, wird mir die Kritik sicherlich nicht erspart bleiben
In dieser Zeit fing ich an, mich anders zu erleben. Ich begann zu verstehen, dass ich immer aufgrund meines Könnens beurteilt werden würde. Wenn ich siege, werde ich vermutlich gelobt. Wenn ich schlecht fahre, wird mir die Kritik sicherlich nicht erspart bleiben. Aber gleichzeitig habe ich realisiert, dass ich viel mehr bin als ein gut oder schlecht gefahrenes Rennen. Und dass die Träume viel wertvoller sind als ein gewonnenes Rennen.
Ein Leben voller Träume
Und jetzt? Jetzt habe ich tausend Träume. Ich träume nicht mehr nur vom Skifahren, aber auch. Ich träume davon, mit einem echten Lächeln zu siegen. Ich träume davon, glücklich über meine Leistung das Ziel zu erreichen und die Blicke der Menschen zu kreuzen, die ich liebe. Und hoffe, dass wir diesen Augenblick zusammen auskosten und ihn so erleben können, wie wir ihn bis anhin noch nie erlebt haben.
Ich träume nicht mehr nur vom Skifahren, aber auch
Ich träume davon, nach Hause zu kommen und meinen Mann wiederzutreffen, die Haustür zu schliessen und unsere Welt wiederzufinden – nur zu zweit. Ich möchte dann am liebsten die Zeit kurz anhalten und unsere Zweisamkeit geniessen, am nächsten Tag ausgehen und alles gemeinsam erleben.
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Ich bin stolz auf meine Eltern und auf das, was sie mir beigebracht haben, wie sie mich immer unterstützt und beschützt haben. Sie gaben mir Kraft, als ich keine hatte, und sie haben sich übertroffen im schwierigsten Beruf der Welt, nämlich dem des Elternseins. Denn es ist so einfach, die Arbeit der anderen zu kritisieren. Aber ich weiss, dass ich keine besseren Eltern hätte haben können. Sie haben mich angespornt, mich freigelassen, aber immer nach Hause zurückgebracht. Sie haben mich getadelt, ohne mir das Gefühl zu geben, ich würde falschliegen. Sie waren immer da, und das ist das Wichtigste.
Ich träume davon, meine Stieftöchter und einmal meine Kinder und Enkel stolz zu machen und viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Ich bin immer gern mit Kindern zusammen gewesen. Und jetzt, wo ich mich etwas kompletter fühle, merke ich auch, wie schön es ist, Jugendliche um mich zu haben, ihnen das Guetzlibacken beizubringen, zusammen Karten zu spielen oder sie zur Schule zu bringen.
Ich bin glücklich
Ich träume vom Leben mit meinem Mann Valon, von den Orten, die wir besuchen werden, von unseren gemeinsamen Projekten. Ich koste jeden Augenblick aus, den wir zusammen verbringen. Denn mit meinem Mann habe ich gelernt, das Leben mit anderen Augen zu betrachten.
Wie bin ich so weit gekommen? Mit Sicherheit mit meinen Beinen, aber auch dank der Tatsache, dass ich zwar von wenigen Menschen umgeben bin, auf die ich aber wirklich zählen kann. Meine Eltern haben mir das Träumen beigebracht, mein Bruder hat mit mir gemeinsam geträumt, mein Mann hat mir den Mut gegeben, alle meine Träume zu leben. Die Jungs haben mich angespornt, ihnen zu zeigen, was träumen heisst.
Ich bin glücklich, dass ich träumen kann, aber träumen mit den Menschen, die wir lieben, bedeutet leben. Und ich will leben.