Nein, es war kein guter Start in den Tag gewesen. Lara Gut ist wortkarg. Um sieben Uhr hats an der Tür geklingelt. Dopingkontrolle! Unangemeldet. Die Tessinerin störts nicht, dass sie zu Hause in Comano ob Lugano von den Kontrolleuren «überfallen » wird. Sie hat nichts zu verbergen. «Das sind die Spielregeln. Die gelten auch für mich.» Ausserdem hat sie selbst als beste Präsenzzeit zwischen sechs und sieben Uhr morgens angegeben. Aber im Moment ist es für die Skirennfahrerin eine Qual, so früh aus den Federn zu müssen. «Normalerweise genügen mir auch sechs Stunden Schlaf, wenn ich keine besonders anstrengenden Aktivitäten hinter mir habe. Aber momentan brauche ich täglich zehn Stunden Schlaf. Ich bin einfach ständig erschöpft.»
Ganz neue Erfahrungen für Lara. So kannte sie sich selber bisher nicht. Normalerweise ist sie das Energiebündel auf Ski, die Tessiner Frohnatur, Kichererbse der Schweiz. Everybody’s Schätzchen. Und das nicht nur, weil sie im vergangenen Winter zur jüngsten Super-G-Gewinnerin der Geschichte und zweifachen WM-Medaillengewinnerin geworden ist.
Laras Fröhlichkeit ist ihr Markenzeichen, überall, selbst im Starthäuschen noch, wo andere verbissen in sich gehen. Der 29. September 2009 stellt dieses Image auf die Probe. In Saas-Fee VS stürzt Lara im Riesenslalom-Training. Es ist kein Abflug, der auf den ersten Blick fürchterlich aussieht. «Ich traute meinen Augen kaum, weil Lara so selten stürzt. Aber ich habe sofort gemerkt, dass es gravierender sein muss, als ich bei ihr war», sagt Vater Pauli Gut, der vom Pistenrand aus gefilmt hat.
Lara leidet brutale Schmerzen. Sie weint. Die Hüfte ist ausgerenkt! Per Helikopter wird sie ins Spital nach Visp gebracht, wo man ihr das Gelenk wieder einrenkt. Doch dabei bleibts nicht. Im Berner Inselspital folgt am 9. Oktober ein Eingriff per Arthroskopie. Ziel: diesem für Skisportler extrem wichtigen Gelenk die notwendige Stabilität zurückzugeben. Liegen und warten. Es ist alles, was Lara tun kann in den folgenden Wochen zu Hause. Und Ruhe bewahren. Was für eine ihres Temperaments nicht einfach ist. «Ich konnte nichts tun. Für jedes Glas Wasser musste ich jemanden rufen. Meine Mutter war meine Rundum- die-Uhr-Krankenschwester. Ich war wie ein kleines Kind. Völlig hilflos.»
An den Krücken aufs WC gehen, sich die Trainerhose anziehen – alles ein einziger Krampf. Zwar nicht schmerzhaft, aber anstrengend. «Ich habe gelesen und gelesen, manchmal sieben Stunden. Aber irgendwie konnte ich mich gar nicht konzentrieren. » Dass da auch einer Lara Gut das Lachen mal vergeht – wen wunderts? Man sieht ihr den inneren Kampf an. Sie will nicht klagen. Sie will ihr Schicksal akzeptieren. «Ich kann nichts für meine Verletzung, und ich kann sie auch nicht mehr ändern.Was soll ich lamentieren? Dass die anderen jetzt Rennen fahren, interessiert mich nicht.» Siehts auch in ihr drin wirklich so aus?
Seit zwei Wochen sind die Krücken weg. Einfacher hat sie es deswegen nicht. Denn jetzt geht das Rehabilitationsprogramm los. An Krafttraining ist nicht zu denken. Es geht vorerst darum, sich die Beweglichkeit der Hüfte in minimalsten Schritten wieder zu erarbeiten. Die halbstündige Runde mit Lara durch Comano zeigt, wiemühsam das geht. Ein paar Schritte – ausruhen. Jede kleinste Bewegung verlangt Konzentration. Zehn Treppenstufen beim Gemeindehaus abwärts, zehn wieder hinauf. Laras Körperspannung ist bis in die Fingerspitzen zu sehen. Beim Dorfbrunnen Dehnungsübungen. Ganz behutsam. Eine Gruppe Nordic Walkerinnen stöckelt schnatternd vorbei. Lara, die Spitzensportlerin, die Siegerin, wäre froh, sie könnte nur schon stöckeln. Aufs Schnattern hat sie derzeit wenig Lust.
Am Nachmittag gehts nach Lugano runter. Per Auto. Lara fährt selbst. Ein Lichtblick. «He, Auto fahren ist doch einfacher als gehen», sagt sie. Meldet sich da der alte Schalk zurück? Wassergymnastik steht auf dem Programm. Mit ihrer langjährigen Physiotherapeutin Norma Tipaldi bewegt sie sich im Bassin der Wellness- und Spa- Residenz Villa Sassa behutsam vor und zurück. Aus dem Wasser zu steigen, braucht Zeit. Aus dem Sprudelbecken hört man es dann endlich wieder einmal, Laras ausgelassenes Kichern. Macht also wenigstens das Üben im Wasser etwas Spass? «Ski fahren macht mir Spass!» Da ist sie wieder, die trotzige Entschlossenheit der Vollblut-Schneesportlerin.
In Comano sitzen Papa Pauli, Mama Gabriella und Lara Gut später am Küchentisch. Bruder Jan, 13, ist in der Schule. Ihm, dem viele ähnliches Talent attestieren wie der grossen Sorella, hätte Mama Gabriella diesen Winter gerne etwas mehr Zeit als Trainerin gewidmet. Es war eines der Projekte für ihren einjährigen Urlaub vom Job als Turnlehrerin. Stattdessen ist sie nun als Krankenschwester – und vor allem als Mami – gefordert. Hat das ungewohnt lange Zusammensein der Familie auch gute Seiten, ist man noch näher zusammengerückt? Jetzt lachen Lara und Gabriella laut hinaus. «Wohl eher im Gegenteil», sagt Lara. «Wir sind uns auch schön auf die Nerven gegangen!» Und gleich umarmt sie ihre Mama von hinten, drückt ihr einen Kuss auf den Hals, zwinkert dem Papa zu. Das ist Liebe.
Leicht zu sehen, woher Lara Gut die Kraft nimmt für ihren zermürbenden Weg zurück. «Lara ist eine einfache Patientin », sagt Pauli Gut. «Sie weiss genau, was sie braucht: Geduld. Sie ist auch da diszipliniert und professionell.» Bleibt die unvermeidliche Frage: Reichts für Olympia im Februar in Vancouver? Lara ist ganz offen: «Ehrlich, mich nervt diese Frage allmählich. Ich denke heute nicht ein bisschen ans Skifahren, sondern nur ans Gesundwerden, an meine Alltagstauglichkeit. » Und der Vater stellt klar: «Normalerweise braucht es nach so einer Verletzung sicher drei Monate, bis man wieder gesund ist. Lara ist zwar Skirennfahrerin, aber sie ist zuerst auch ein Mensch. Vor Januar wird sie mit Sicherheit nicht auf den Ski stehen.» «Es wäre kein Unglück, Olympia zu verpassen», sagt Lara Gut. «Vielleicht ist bisher in meiner Karriere alles fast etwas zu einfach, zu schnell gegangen. Nun habe ich lernen müssen, auch ganz kleine Schritte zu geniessen.»