Ich lese nie zuhause am Tisch. Im Bad ja, da schwebt der Körper mit der Geschichte schön leicht davon, wie in einem rauschenden Lesefluss. Doch am liebsten lese ich unter Leuten, wenn sich im Gewirr der Stimmen einzelne Wörter wie Schmetterlinge auf den Zeilen niederlassen.
Das bereichert die poetische Kraft des Textes. Wenn jedoch zu viel Unruhe um mich herum herrscht, merke ich, dass ich nicht mehr konzentriert bin. Dann höre ich besser den Gesprächen zu und schaue die Menschen an: Ein Paar mit wehendem Haar stolziert vorbei, es erinnert von fern an den Titel eines Liebesromans. Oder die Sommersprossen auf einem Gesicht verdichten sich zu einem Sehnsuchtsgedicht. Eine Frau mit Hund wirkt wie das letzte Kapitel einer traurigen Geschichte. Und da das Lachen und Rufen von Kindern gemischter Herkunft auf einem Spielplatz – ein Wörtergewirr wie beim Blättern in einem Fremdwörterbuch.
Stillsitzen und Lesen hatte man mir in der alternativen Freien Schule Trichtenhausermühle nicht beigebracht. Das merkte ich erst, als ich in die 3. Klasse der regulären Volksschule kam: Ich konnte nämlich noch überhaupt nicht lesen und schon gar nicht wie die anderen Kinder brav stillsitzen auf dem Schulbänkli wie ein Papagei auf dem Stängeli. Das Lesenlernen hatte ich bald nachgeholt, das Stillsitzen dabei nicht. Ich schaffe das noch heute nicht. Nicht mal in den Bibliotheken in Paris. Da fotografiere ich die Seiten lieber ab und flaniere ins Café Palette, um die dann dort im Handy zu lesen.
In Zürich lese ich am liebsten in der Uto-Badi oder in der Kronenhalle-Bar. Die Mixer klappern, die Schweppes zischen, die Leute plaudern, man hört kein Wort wirklich, aber man ist eingebettet in menschliche Wärme. Na gut, es ist etwas dunkel, und eigentlich kann man nur in einer Ecke der Bar im Stehen lesen. Eigentlich noch besser! Dann kann der ganze Körper mitlesen, die Füsse zucken im Takt der Kommas, die Knie knicken mit den Konsonanten. Das Lesen ein Tanz. Das Leben ein Fest.
Das Lesen in der Öffentlichkeit kann mitunter auch gefährlich werden. Einmal las ich in einem Dorf auf Sardinien Kafkas «Amerika», seinen ersten und wohl unbekanntesten Roman. Ein Buch nah am Wahn. Man verirrt sich darin in Gängen und Intrigen wie der Held. In der Lektüre spürte ich eine weitere Irritation, eine von aussen: Eine Frau schaute mich, der da im Freien las, böse an. Ich fiel in ihre Augen. Sie sog mich in ihr höhnisches Hirn. Ich bekam Angst, klappte das Buch zu, stand auf und fuhr mit dem Ciao davon.
Ich las danach nie mehr Kafka. Bis ich jetzt für die Tonhalle Texte für eine Lesung am 9. Juni zusammenstellen musste. Als ich an dieselbe Stelle in Kafkas «Amerika» kam, flog mein Körper durch Raum und Zeit zurück. Das Herz flatterte, das Hirn fieberte, und die Augen jagten mich wieder bös und hinterhältig …
Ja, die Orte, an denen man liest, zeichnen sich tief in die Texte ein – und verleihen den Büchern auf unheimliche Weise noch eine Sinnschicht dazu. Und das Leben liest mit.