Im rosa Röckchen, über rosa Strumpfhosen, unter ausladendem blassrosa-pinken Tüll-Cardigan kreiselte sich Nemo vor bald einem Jahr in die europäischen Herzen und holte ihn nach Hause – den Eurovision-Song-Contest-Pokal. Natürlich lag das mehrheitlich an der sportlich-gesanglichen Darbietung in Kombination mit der inhaltlich identitätspolitischen Stossrichtung des Songs «The Code». Nemos überzeugendes nonbinäres Gesamtkonzept schlug sich natürlich auch in der Kostümierung nieder und führte wohl auch deshalb zum geschichtsträchtigen Erfolg. Dabei soll besagtes Kostüm der schwedischen Designerin Linnéa Samia Khalil eine spontane Entscheidung gewesen sein. Ursprünglich wollte Nemo ein pelziges, pinkes Kleid der schwedischen Designerin Lehna Edwall tragen – erst zur Generalprobe wurde umdisponiert. Ob das final zum Sieg führte? Schwer zu sagen.
Dass die herausstechende Verpackung heute aber mitentscheidend ist beim internationalen Gesangswettstreit, davon ist auszugehen. Dem war nicht immer so. Man erinnere sich an Lugano 1956 und die erste aller «Grand Prix Eurovision de la Chanson»-Siegerinnen Lys Assia: Als stilsicher galt sie ja, die «Königin der Revuen», der Star der europäischen Nachkriegszeit in Sachen gediegener Unterhaltungsabende – exaltierte Garderoben suchte man aber auch unter ihren Mitstreitenden vergebens.
Lys Assia, 1956, Lugano
Die Aargauerin war die allererste, die in Lugano den Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne mit ihrem Lied «Refrain» gewann. Mit nettem Cocktailkleid und grossem Orchester.
IMAGO/piemagsMit wenigen Ausnahmen führten die Gesangstalente der folgenden Jahrzehnte das Prinzip fort. Man setzte eher auf Klasse im Sinne der jeweils geltenden Moden denn auf herausstechende Andersartigkeit. Das ESC-Klischee, es handle sich bei der Veranstaltung doch «nur» um eine queere Karnevalsparade, bei der die Musik eine zweitrangige Rolle spielt, ist ein vergleichsweise junges Phänomen. Selbst das kanadische Stimmwunder Céline Dion, das 1988 nach Lyss Assia den zweiten Schweizer Sieg ersang, entwickelte viel später in ihrer Karriere einen Sinn für modische Dramatik. «Ne partez pas sans moi» forderte sie damals schmetternd in schlichter, weisser Tütü-Blazer-Kombination mit eckigen Schulterpolstern und krauser Dauerwelle – alles damals enorm en vogue. Trotzdem sorgte die Kostümierung bereits in den späten Achtzigern für immerhin ein bisschen Aufmerksamkeit. «Der Bund» spöttelte am Tag nach Dions Sieg spitz: «Ein Oberteil à la Maggie Thatcher, kombiniert mit einer knapp über den Knien abgesägten Tüll-Krinoline.»
Céline Dion, 1988, Dublin
Céline Dion überzeugte für die Schweiz mit ihrer Stimme und der Interpretation des Songs «Ne partez pas sans moi». Ihr Look fiel eher unscheinbar aus.
KeystoneKaum vorzustellen, wie wenig einst die Bühnenoutfits auf mediale Resonanz stiessen, wenn man an die letzten zwei Jahrzehnte des Eurovision Song Contest denkt. Frühestens seit den Neunzigerjahren, mindestens aber um die Jahrtausendwende, wird es wichtiger und wichtiger, auch abseits der musikalischen Leistung für Furore zu sorgen. Und allerspätestens mit den Parallelübertragungen online und auf den sozialen Medien scheinen Kostümentscheidungen nur noch ob ihrer Attribute «schrill», «bunt», «wenig» oder wenigstens «irgendwie anders» gefällt zu werden.
Zwölf Punkte garantiert das nicht immer. Bestes Beispiel dafür ist der Auftritt der deutschen Kandidatin Lena Meyer-Landrut im Jahr 2010. Im ausgesprochen schlichten kleinen Schwarzen hüpfte sie medienwirksam zum Sieg – wobei auch hier die modische Inszenierung dem Erfolg nicht abträglich war. Ist das Auge übersättigt, sucht es Ruhe und entscheidet mit über den Erfolg. Was dann noch bei den Ohren ankommt, ist nicht mehr ganz so wichtig.
Barbara Dex, 1993, Millstreet
Die form- und farblose Eigenkreation der Belgierin animierte ESC-Fans zur jährlichen Vergabe des Barbara Dex Award für das hässlichste Kleid.
Getty ImagesDass ästhetische Überlegungen auch über die Musik hinaus eine Rolle spielen, beweist ein weiteres, nun ja, Negativbeispiel: 1993 belegte die belgische Sängerin Barbara Dex den letzten Platz und sollte dennoch – oder gerade deswegen – in die ESC-Annalen eingehen. Grund dafür war ihr selbstgebasteltes, semitransparentes, bodenlanges Chiffon-Kleid in Beige. Anscheinend eine ausgesprochene Geschmacksverirrung: Ihr zu Ehren vergaben ESC-Fans über zwanzig Jahre lang den «Barbara Dex Award» für das jeweils hässlichste Bühnenkostüm. Unter den 24 Preisträgerinnen und Preisträgern erreichten sechs trotzdem die Top Ten des Wettbewerbs. Wie das Outfit der neuen Schweizer Hoffnung Zoë Më ausfällt, wird sich vom 12. bis 17. Mai 2025 in Basel zeigen. Die Vorfreude auf ihre «Voyage» ist gross.