Seit 35 Jahren hat Karl Lagerfeld Chanel fest im Griff. Inzwischen ist der Mann mit dem charakteristischen, weissen Pferdeschwanz 85 Jahre alt – und könnte doch mal in Rente gehen. Seit Jahren ist sich die Modewelt sicher: Der Karl, der hört bald auf. Der Schock, nach der jüngsten Haute Couture Show am 22. Januar in Paris, war trotzdem für alle Anwesenden gross: Karl war nicht da!
Da liegt was in der Luft
Die 2019er Frühjahr/Sommer-Kollektion war so umwerfend, wie man es aus dem Hause Chanel gewohnt ist, die Kulisse im Grand Palais wie immer atemberaubend. Zuletzt schreitet «die Braut» (fantastisch im funkelnden Badeanzug) durch den extra angelegten Garten mit Pool. Was als nächstes folgen muss, ist allen Gästen klar: Der Maestro nimmt die Braut in Empfang, lässt sich und seine Entwürfe feiern, dann folgt das grosse Finale. Aber es kommt ganz anders. Die Braut und ihr Badeanzug verschwinden hinter den Kulissen. Kein Karl, kein Winken. Ähm … Moment! Als wäre nichts gewesen strömen alle Models noch einmal durch den Garten der «Villa Chanel», das verwirrte Publikum beklatscht jeden einzelnen Look und wartet gespannt – irgendwo muss er doch auftauchen. Macht er aber nicht. Finale vorbei, Show vorbei, immer noch kein Karl Lagerfeld. Und das ist eine traurige Premiere in seiner 35 jahrelangen Laufbahn bei dem französischen Modehaus.
Erschöpfung sei der Grund seiner Abwesenheit, heisst es später in der offiziellen Stellungnahme des Hauses. Oh Gott, ist an all den Spekulationen und Theorien also wirklich etwas dran?!
Karl Lagerfeld selbst dementiert Rücktritts-Gerüchte gerne. Chanel sei eine Lebensstelle. Im wortwörtlichen Sinn. Die Personalie Lagerfeld gilt aktuell trotzdem als am heissesten diskutierte im Fashion-Business. Gibt es Chanel ohne Lagerfeld überhaupt noch? In vielen Köpfen nicht. Zu sehr habe der gebürtige Hamburger seit 1983 das Gesicht des Traditionshauses geformt, neu definiert und geprägt. Seine Handschrift ist überall zu lesen.
Gibt es eine Post-Lagerfeld-Ära?
Denn Lagerfeld ist längst mehr als ein Designer. Er ist das Mastermind, das der Firma nach dem Tod von Coco Chanel 1971 wieder eine Identität verpasste – besonders in Sachen Mode. Vor Karl verdiente Chanel hauptsächlich an Parfums und anderen non-fashion Produkten. Erst Lagerfeld machte Chanel auch als Fashion-Haus wieder relevant.
Aktuell kann sich deshalb kaum jemand vorstellen, dass es bei Chanel ohne Karl so weiterfunzt. Einfach untergehen wird Chanel aber sicher nicht. Ein Multimillionen-Konzern wäre ganz schön naiv, sich nicht rechzeitig mit möglichen Abschiedsszenarien und Nachbesetzungsutopien für den hauseigenen Guru auseinanderzusetzen. Ähnlich wie bei Bundesratswahlen dreht sich auch hier seit Jahren das Kandidatenkarussell (das Karussell hat in diesem Fall viele Sitze. Wir sparen uns für den Moment die Spekulationen). Und mal abgesehen davon – hat nicht gerade le Lagerfeld bewiesen, dass frischer Wind einem Haus durchaus gut tut?