Die 57-jährige Kanadierin, die in den Neunzigerjahren berühmt dafür wurde, dass sie für weniger als 10 000 Dollar am Tag erst gar nicht aufsteht, verbrachte die letzten fünf Jahre abseits des Rampenlichts. Der Grund: Eine Reihe an Cool Sculpting-Behandlungen, die sie nach eigenen Aussagen «brutal entstellt» haben. Das kosmetische Verfahren zum Einfrieren von Fett führte bei Linda Evangelista zu einer seltenen Komplikation, die sogenannte adipöse Hyperplasie, bei der sich die Fettzellen vergrössern statt verkleinern.
Verpfuschter Eingriff
Vor einem Jahr machte das Ex-Supermodel den Schönheits-OP-Skandal auf Instagram öffentlich und verkündete, dass sie das New Yorker Unternehmen aufgrund schwerer Verletzungen verklagt habe. Die Klage wurde inzwischen beigelegt, es fand eine Einigung statt. Mit den Folgen muss Evangelista nun trotzdem leben – was sie aber nicht davon abhält, das Cover der wichtigsten Ausgabe des Jahres der britischen «Vogue» zu zieren:
Das Streben nach Jugend
Im Interview mit «Vogue»-Autorin Sarah Harris gibt Evangelista Einblick in ein Leben, dass wegen eines kosmetischen Eingriffs komplett auf den Kopf gestellt wurde – und wie sehr sie diese Behandlung bereut. Warum also hat sie es getan? Die Antwort kommt nicht von Evangelista selbst, sondern von Harris. Die «Vogue»-Autorin mutmasst, dass sie es aus den selben Gründen tat, aus denen man sich ab und zu eine Spritze Botox gönnt: Das ewige Streben der Gesellschaft nach Jugend. Ist das Aussehen zu dem auch noch Kapital, kann das Verblassen der Schönheit oder eine Veränderung des Aussehens nur schwer zu ertragen sein. Insbesondere wenn man wie Evangelista über Dekaden hinweg in der Öffentlichkeit steht.
Ikonen der Neunziger
Als in den Neunzigerjahren die Ära der Supermodels anbricht, war Linda Evangelista mitten drin. Zusammen mit Ikonen wie Naomi Campbell, Christy Turlington, Cindy Crawford, Kate Moss oder Tatjana Patiz machte sie den Beruf zum Phänomen. Dreissig Jahre lang konnte sie sich in der Branche behaupten. Arbeitete nach Lust und Laune. Bis sie es schliesslich gar nicht mehr tat – und bis vor Kurzem untertauchte.
Noch Zeitgemäss?
Glücklicherweise hat Evangelista, seit dem sie sich geoutet hat, grosse Unterstützung aus der Branche erhalten, einschliesslich Designer Kim Jones, der sie für eine Fendi-Kampagne engagierte. So oder so bleibt die Geschichte des Models von der Suche nach ewiger Schönheit allerdings ambivalent. Während auf dem Cover «I am trying to love myself as I am» steht, erzählt die Bildsprache der Modestrecke etwas anderes. Erkennt man den Aufnahmen doch sofort und ohne geschulten Blick an, dass sie hochgradig bearbeitet sind. Ausserdem heisst es in dem Artikel, dass Gesicht, Kiefer und Hals von Make-up-Königin Pat McGrath mit Klebebändern zurückgezogen worden. «So sehen mein Kiefer und mein Hals nicht im wirklichen Leben aus», wird Evangelista zitiert.
Verpasste Chancen
Schade, finden wir. Hätte man die Coverstory doch als Anlass nehmen können, neue Ideale zu schaffen. Statt Evangelistas Gesicht zu photoshoppen und unter Hüten und Tüchern zu verstecken, hätte man die Imperfektionen einer wunderschönen Frau feiern können, die von Höhen und Tiefen des Lebens gezeichnet ist. Gerade in Zeiten von Body Positivity und Best Ager*innen eine verpasste Chance.