Zwei unterirdische Lagerräume neben einer Tiefgarage, mitten in Zürich. Es brummen leise die Luftentfeuchter, Neonlicht erhellt die Szenerie: Laufmeter um Laufmeter Kleiderstangen, Hunderte von hellen Hussen, an den Wänden deckenhohe Regale voller Kartonschachteln. Hier verbirgt sich gut geschützt die bedeutendste Schweizer Haute-Couture-Sammlung. Und hier im Untergrund verbringt die Zürcher Couture-Schneiderin Rosmarie Amacher (65) Stunden mit dem Beschriften ihrer Schätze. Sie inventarisiert in der Betongruft ihre textilen Kulturgüter, die für das Rampenlicht geschaffen wurden für die bewundernden Blicke des Publikums.
Tatsächlich waren viele der Kleider aus Amachers Sammlung einst auf Pariser Laufstegen zu sehen, wurden in den Ateliers von Chanel, Dior, Yves Saint Laurent oder Mugler entworfen und in Handarbeit hergestellt. Nur das älteste Teil der Sammlung der Swiss Textile Collection war nie für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt: Die lilafarbene Unterhose aus zartem Batist mit Klöppelspitze trug einst Kaisermutter Sophie. Das grossformatige Wäscheteil von anno 1830 hat mit allen anderen Preziosen eines gemeinsam: Es ist aus Schweizer Tuch gefertigt, von Abraham über Forster, Willi sowie Jakob Schlaepfer bis Zumsteg.
Als Couture-Schneiderin und Stoffhändlerin kennt Rosmarie Amacher, die ihr Geschäft im noblen Zürcher Seefeld unter dem poetischen Namen «À ma chère» betreibt, natürlich all die Traditionsfirmen und gerät beim Anblick und erst recht beim Berühren der aufwendig gefertigten Stoffe ins Schwärmen. Welch immenses Wissen über Textilien und Techniken sie im Lauf ihres langen Berufslebens erworben hat, zeigt sich, wenn sie in ihrer Schatzkammer eine Schutzhülle um die andere öffnet und immer weitere Kleiderträume enthüllt und erklärt.
Vom Erben und Erwerben
Wissen und Verve allein genügen nicht, um eine solche Sammlung aufzubauen. Es braucht auch Beziehungen, Beharrlichkeit und ein bisschen Glück. Rosmarie Amacher erhielt einige Teile von ihrer gut betuchten Kundschaft mit klangvollen Namen aus Hochfinanz und Industrie geschenkt. Eines Tages habe ein Anwalt angerufen und gesagt, seine Klientin hätte einen enormen Kleiderfundus hinterlassen, alles Haute Couture, ob sie Interesse habe. So übernahm sie die Sammlung der Milliardärsgattin und Fashionista Eva Maria Hatschek-Steiner.
Für einen tiefen fünfstelligen Betrag konnte Amacher ihre Schätze auf einen Schlag um 1680 Gewänder, Schuhe und Hüte erweitern. Auch kam sie zu all den Foulards von Yves Saint Laurent, die Gustav Zumsteg, der Zürcher Seidenhändler und Spross der «Kronenhalle»-Dynastie, gesammelt hatte. Auf Auktionen in Paris und London erweiterte die Couturière ihren Bestand mit Kreationen von Courrèges, Givenchy oder Paco Rabanne. Eine Bluse fand sie sogar in einem Brocki – «ein Glücksmoment – wie Weihnachten und Geburtstag zusammen und ebenso selten!»
«Unsere Vorfahren haben mit Textilien unseren Wohlstand aufgebaut»
Rosmarie Amacher
Kein Glück hatte Amacher mit ihrer Anfrage beim Bundesamt für Kultur um Unterstützung. Also gründete sie den Verein Swiss Textile Collection, der heute 330 Mitglieder zählt. «Ich wehre mich gegen die Verlagerung von immer mehr Produktionen ins Ausland. Ich bin die Don Quijote der Textiler. In den Textilverband und die Zürcherische Seidenindustrie Gesellschaft wurde ich nur aufgenommen, weil ich mit Stoff handelte. Das sind nun alles Immobilienhändler.» Dafür hat sie 2800 Kleider als Schweizer Kulturgut zurückgeholt, alle zwischen 200 und 16000 Franken wert.
Stoff im Blut
Die Liebe zur Mode und zu schönen Stoffen wurde Rosmarie Amacher in die Wiege gelegt. Ihr Grossvater Otto Bieli war Tuchhändler und betrieb eine Massschneiderei in Brugg AG. Ihr Onkel gründete eine Uniformenfabrik und arbeitete für die Schweizer Armee. Er liess sich im feinsten Nadelstreifen-Massanzug beerdigen und hinterliess in einer Kiste allerlei Dokumente über Textilien.
Für die kleine Rosmarie wurden diese Papiere zum Schatz ihrer Kindheit und zur Grundlage ihrer Textilleidenschaft. Es war dann ihre Mutter, eine Hobbyschneiderin, die dem unfolgsamen vierten von fünf Kindern den Weg zur Couturière vorgab. Rosmarie lernte das Schneiderhandwerk im Atelier Villiger, wo sich damals die schicken Damen vom Zürichberg einkleiden liessen. Nach Lehr- und Wanderjahren gründete sie 1983 ihre eigene Massschneiderei, die in Spitzenzeiten 22 Schneiderinnen beschäftigte und der alleinerziehenden Mutter von zwei Töchtern ein Auskommen sicherte.
Heute empfängt Amacher nach wie vor Kundinnen in ihrem Atelier «À ma chère», misst aus, berät und macht Schnitte. Das Nähen überlässt sie wegen ihrer Arthrose den Angestellten. Man trifft die Kämpferin gegen Fast Fashion auch an Stadtwanderungen in Zürich, wo sie über die Bedeutung der Schweizer Textilindustrie referiert: «Unsere Vorfahren haben mit Textilien unseren Wohlstand aufgebaut.» Der Niedergang des Handwerks sei zutiefst bedauerlich. Sie träumt davon, ihre Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Etwa in einer Schule für Studienzwecke oder gar im Landesmuseum.
Vorerst lebt sie jedoch einen anderen Traum: den als Bäuerin in der Toskana, wo sie auf 13 Hektaren nicht nur 1280 Olivenbäume für Bio-Olivenöl pflegt, sondern auch 626 Maulbeerbäume für eine Seidenraupenzucht. Einmal Textilerin, immer Textilerin. Rosmarie Amacher hält weiterhin die Fäden in der Hand.