Victoria’s Secret. Savage X Fenty von Rihanna. Hunkemöller. Etam. Agent Provocateur. Sie alle sind europa- oder gar weltweit berühmte Lingerie-Marken. Und sie alle beziehen ihre Stick-Designs aus St. Gallen. Von der Forster Rohner AG. Welche Labels gehören sonst noch auf die Kundenliste der Stickerei, die seit 1904 das Traditionshandwerk pflegt? «Ohje. Da sind wir wohl schneller, wenn Sie mal alle aufzählen, die sie kennen», sagt Elisheva Senn, Verantwortliche für Business Unit Lingerie und Design. «Und dann sage ich Ihnen, wer davon nicht zu unseren Kunden gehört.»
Inspiration aus dem alten Archiv – und einem Netflix-Hit
Die Forster Rohner AG ist in einem riesigen Gebäude in St. Gallen zu Hause. Auf mehreren Stockwerken befinden sich unterschiedliche Tochterfirmen – darunter auch die Jakob Schlaepfer AG, die Stickereien für Labels wie Chanel, Louis Vuitton und Co. herstellt. Kommt man in das Gebäude, schimmern einem die kleinen Edelsteinchen eines bodenlangen, dunkelblauen Abendkleides entgegen. Eine Kreation von Jakob Schlaepfer. Daneben ein Tisch mit Magazinen der letzten Kollektionen sämtlicher Tochterfirmen.
Im zweiten Stock ist das Atelier der Lingerie-Abteilung Forster Rohner. Fünf Designerinnen arbeiten an unterschiedlichsten Stickerei-Designs. Eine von ihnen ist Linda Heim. Sie sitzt am Schreibtisch und zeichnet mit einem elektronischen Stift auf einem iPad, das die Grösse eines Computerbildschirms hat. «Heute Morgen in der Teambesprechung haben wir gesehen, dass noch 50 Dessins für die Sommerkollektion 2023 gemacht werden müssen. Eines davon mache ich jetzt fertig.» Dessins? Entwürfe, Zeichnungen, Designs. 200 Stück davon ergeben eine Kollektion. Pro Jahr gibt es zwei Kollektionen – eine für den Sommer, eine für den Winter.
Für die Sommerkollektion von 2023, an der Linda und ihre Kolleginnen momentan arbeiten, erhielten sie im Februar 2021 vom Kreativdirektor vier unterschiedliche Moodboards mit Inspirationsbildern. «Eines davon ist voll mit modernem Barock. Der kommt jetzt wieder, wegen der Netflix-Serie ‹Bridgerton›», erklärt Linda. Seit Februar zeichnet sie nun klassische, moderne, naive – so nennt sie jene, die mit Herzchen und Sternchen versehen sind – und blumige Muster auf ihr iPad, die später auf Dessous gestickt werden. «Ich schaue mir deshalb oft Blumen in der Natur an, im Internet oder auch im Archiv.»
Das Archiv von Forster Rohner ist im ersten Stock – und riesig. Unzählige Ordner, Bücher und Stoffe sind nebeneinander, übereinander und untereinander deponiert. Linda kramt ein dickes, staubiges Buch aus einem der Regale und schlägt willkürlich eine Seite auf. «Ha! Genau über solche kleinen, feinen Muster haben wir heute Morgen noch gesprochen», sagt sie fasziniert und zeigt auf eines der uralten Stoffmuster mit kleinen Blümchen drauf. Sie spricht leise, denn am Tisch nebenan präsentieren zwei Männer gerade einem Kunden die neuste Kollektion. Via Zoom natürlich, die Pandemie hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Damit der Kunde die Stoffmuster ordentlich begutachten kann, halten die beiden Männer sie unter eine installierte HD-Kamera. Sie bewegen das Stück Stoff vor der Linse ganz vorsichtig, als wäre es zerbrechlich, und streicheln es so sanft wie eine Mutter ihr Kind. Welcher Kunde da gerade zuhört? Streng geheim. Welche Kollektion vorgestellt wird? Streng geheim. Linda geht wieder nach oben ins Atelier.
Mit China wird in Geheimsprache kommuniziert
Fokussiert setzt sie sich an den Schreibtisch, zeichnet weiter. Sie muss bereits beim Entwurf jedes Detail des Stickens im Kopf haben. Ist ein Design fertig, druckt sie es auf Skizzenpapier aus und schaut, ob alles wie gewünscht in einen Rapport passt. Ein Rapport entspricht einem Quadrätli auf dem Skizzenpapier. Heisst: Die Anzahl Rapporte sagt aus, wie oft und in welchem Abstand das Muster in einer Reihe wiederholt werden soll.
Für die Produktion muss die Zeichnung noch in die technische Sprache übersetzt werden. Linda kramt einen alten Entwurf hervor, einen der neuen darf sie nicht zeigen. Streng geheim. Man sieht blumige Muster, daneben wildes Gekritzel, unverständliche Begriffe. «Corn.» Ein spezielles Garn. «Flowers.» Blumen. «2x RS.» Zweifach mit dem Garn durchfahren, damit eine dicke Linie entsteht. Die technischen Angaben wirken auf einen Laien wie eine Geheimsprache. «Die lernt man in der Ausbildung zur Textiltechnologin Fachrichtung Design, also Stickerei-Entwerferin.» Die Lehre ist vom Aussterben bedroht, man kann sie in der Schweiz nirgendwo anders als in St. Gallen absolvieren. «Es ist halt Traditionshandwerk», erklärt Linda. «Deshalb sind die Designs ja auch so gefragt.»
Der Entwurf mit den technischen Angaben wird – obwohl Forster Rohner eine eigene Stickerei-Produktion im Untergeschoss hat – nach China weitergeleitet. Bis etwa in die 1990er-Jahre wurde noch alles in-house gestickt, heute werden nur noch Haute Couture und Einzelstücke hier gefertigt. «Das Sticken in der Schweiz ist leider absolut unbezahlbar für Lingerie», sagt Linda.
Die Stickereien dienen grossen Brands als Inspiration
Die Designerinnen kriegen die fixfertig produzierten Stoffmuster aus China zugeschickt. Jedes Stoffstück kommt auf einer Lasche, einem Kartonschild, mit drei bis vier verschiedenen Farbvariationen eines Musters drauf. «Wenn man die Stickereien nach fünf Monaten Arbeit erstmals in der Hand hält, ist das jedes Mal wie Weihnachten», erzählt Anna Jazewitsch.
Anna ist ebenfalls Designerin, ihr Büro befindet sich direkt neben Lindas. Hier türmen sich Berge von Stoffmustern, daneben stehen etliche Moodboards. Doch die Stoffe liegen nicht ungeordnet im Raum, alles hat seinen Platz: Jeder Stoff ist einem Thema zugeordnet. Anna sitzt am Pult, wischt mit dem Stift auf ihrem iPad hin und her. Sie erstellt eine digitale Präsentation der Kollektion. «Es ist wichtig, dass Kunden den Hintergrund, die Inspiration der Designs kennen», erklärt sie.
Wenn Corona nicht wäre, würde das ganze Designerteam im Juli nach Paris fahren, an die Messe, und ihre Kreationen den internationalen Kunden persönlich vorstellen. In Zeiten der Pandemie leider unmöglich. Trotzdem muss die Sommerkollektion 2023 bis Anfang Juli diesen Jahres fertig sein. Sommer 2023. Das geht doch noch ewig? «Manche Brands lassen sich von den Stoffmustern für ihre eigenen Stücke inspirieren.»
Ist eine Stickerei beliebt, gibts Brüederli davon
Anna und ihre Kolleginnen sind Vorproduzentinnen. Quasi Designerinnen für Designer. Und sie brauchen Zeit, um die Anpassungswünsche der Kund*innen umzusetzen. Und: Jedes Design darf nur an einen einzigen Kunden verkauft werden, schliesslich können nicht mehrere Brands die gleichen Muster verkaufen. Ist ein Stück beliebt und wollen es mehrere Kund*innen kaufen, kreieren die Designerinnen «Brüederli»: Ähnliche Teile, die aber nicht zu ähnlich sind. Pro Designerin ergeben sich daher gut über 1'000 Dessins pro Jahr. Stressig. «Wir müssen eben schneller sein als die Zeit», sagt Anna mit einer bescheidenen Selbstverständlichkeit. Sie öffnet auf dem iPad die nächste Seite ihrer Präsentation. In zwei, drei Wochen, wenn alles fertig ist, gehts in die Sommerpause. «Und danach gehts an die Winterkollektion.»