Plötzlich waren sie überall zu sehen, die Schuhe mit dem Miniabsatz. Bei Prada, Miu Miu, Valentino, Altuzarra, Dior, Ottolinger, Chloé, 16Arlington tauchten die Kitten Heels 2024 in 259 Looks auf den Laufstegen auf, gemäss dem Branchenmagazin «Tagwalk», das auf Datenanalysen spezialisiert ist.
Dabei sind die drei bis fünf Zentimeter hohen Kitten Heels längst keine neue Erfindung. Christian Dior war es, der 1962 in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls französischen Modedesigner Roger Vivier das erste Paar präsentierte. Sie wollten einen praktischen und zugleich eleganten Schuh für den Alltag im Repertoire jeder Frau ergänzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war in vielen europäischen Ländern das Frauenstimmrecht eingeführt worden, die Frau versuchte sich nach und nach von ihrer isolierten Hausfrau-und-Mutter-Rolle zu lösen. Von Stars wie Audrey Hepburn und Jackie Kennedy vorgeführt, wurde der neuartige Schuh schnell zum Erfolg.
Die superschlanke Audrey Hepburn war der Antitrend zu den Kurvenstars der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Das kleine Schwarze aus dem Film «Breakfast at Tiffany’s» entwarf Hubert de Givenchy.
Getty ImagesHeute, 63 Jahre später, sind sie wieder zurück, in vielen Formen, Farben und Facetten. Spitz und aus Satin bei Prada, in Form von Clogs mit kleinem Holzabsatz bei Chloé. Bei Isabel Marant gab es sie in der Winter-Edition als Stiefeletten mit Miniabsatz. Natürlich waren die Kitten Heels nicht für 63 Jahre verschwunden, sie feierten bereits in den Neunziger- und den frühen Nullerjahren ein grosses Revival.
Auf den Laufstegen waren Kitten Heels – oder Queenie-Absätze – wieder zu sehen, hier an der Herbst-/Winter-2024-Show von Prada.
Gamma-Rapho via Getty ImagesAktuell schwemmt es einen Trend nach dem nächsten aus der Jahrtausendwende wieder in unseren Kleiderschrank oder eben Schuhkasten. Doch warum kehren diese Trends zurück? «Etwas muss seinen Ruf verloren haben, bevor es wieder aufgenommen werden kann», erklärt Bitten Stetter, Trendforscherin, Modedesignerin und Professorin für Trends & Identity an der Hochschule ZHdK. Und so kommt es, dass die modisch verspotteten Neunziger- und Nullerjahre plötzlich wieder spannend scheinen.
«Der Mode entkommt man nicht. Denn auch wenn Mode aus der Mode kommt, ist das schon wieder Mode.» – Karl Lagerfeld
Bis es richtig warm wird, werden die Kitten Heels mit Socken gestylt.
Getty Images«Wir hatten während Jahrzehnten, also sehr lange, einen Sneaker-Boom.»
Warum wollen wir die Kitten Heels genau jetzt zurück? «Wir hatten während Jahrzehnten, also sehr lange, einen Sneaker-Boom. Das war unter anderem ein Zeichen dafür, dass wir Bodenhaftung benötigen», führt Stetter aus. «In den letzten Jahren wäre der hohe, spitze Schuh keine Option für uns gewesen, weil wir in Berührung mit der Welt sein wollen», führt sie weiter aus. In Zeiten von Kriegen, Pandemie und wirtschaftlichen Unsicherheiten war das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität gross.
Heute ist noch nicht alles überstanden, sondern eher zu einem Dauerzustand geworden. «Dieser Zustand ruft in uns den Wunsch hervor, ausserhalb der Vernunft zu agieren», weiss Stetter. «Das geht mit Trends einher wie Eskapismus und Sehnsucht nach Kitsch. Diese Sehnsucht nach Kitsch manifestiert sich aktuell auch in Filmen, Serien und der Musikbranche. Das Schöne wird wieder bedeutsamer und wir möchten uns ein bisschen von der Realität distanzieren, in die Höhe gehen.» Wenn auch höhenmässig nur in kleinen Schritten, ganz abzuheben trauen wir uns (noch) nicht. So sind die Kitten Heels ein guter Kompromiss für einen nicht ganz so waghalsigen Schritt in den Aufbruch. Bitten Stetter nennt den Kitten Heel das Einsteigermodell «für ein bisschen eskapistische, ausgefallenere und unbequemere Mode. Es ist ja auch eine unbequeme Zeit.»
Die Gesellschaft scheint bereit für das unbequeme Schöne – abseits der Sneaker-Komfortzone. So sind die Suchanfragen bei Zalando im Jahr 2024 für Kitten Heels um 777 Prozent angestiegen im Vergleich zum Vorjahr, mit einem Höhepunkt im September. Also genau dann, als die auf dem Laufsteg präsentierten neuen Kollektionen im Handel erhältlich waren. Auch Brands wie Manolo Blahnik, berühmt für 10 bis 12 Zentimeter hohe Absätze, lancieren ihre Klassiker mit Kitten Heel neu. Das Beispiel illustriert einen Trend, der von oben kommt (top-down), den also die Modeindustrie vorgibt und der unten ankommt. Doch es geht auch umgekehrt. Ein Trend, der bottom-up entstanden ist, ist die Marlene-Hose. Eine breite Hose, die nach ihrer prominenten Trägerin Marlene Dietrich benannt ist.
Marlene Dietrich zeigte, wie verführerisch maskuline Outfits sein können.
Getty Image«Über 15 Jahre wurde auf dem Laufsteg versucht, mit der breiten Marlene-Hose die Skinny-Jeans abzulösen, doch der Markt hat es nicht angenommen», erklärt Bitten Stetter. Warum wurde die breite Hose so lange nicht trendy? «Wir wollten zeigen, dass wir gesund leben, dass wir einen sportlichen Körper haben, und den wollten wir ausstellen mit engen Hosen und Sneakern», führt die Trendforscherin weiter aus. Kim Kardashian und Co. setzten neue erstrebenswerte Körpernormen, die gezeigt werden wollten. Doch nicht alles, was die Modebranche propagiert, wird automatisch zum Trend. Es ist die Konsumentin und die Gesellschaft, die bereit sein müssen, den Trend zu leben. Wie lange wir unbequeme, eskapistische Schuhe tragen, wird sich zeigen. Trendforscherin Bitten Stetter denkt, dass wir bald schwindelfrei genug sind für noch höhere Absätze als die Kitten Heels.
Aktuell wird die Marlene-Hose wieder gefeiert.
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