Sie sind eine beständige Grösse des amerikanischen Independent-Kinos und Oscar-Nominierte. Zudem haben Sie über zwei Dutzend Kinofilme produziert, die an den Kinokassen fast 2,2 Milliarden Dollar einspielten, darunter 1990er-Jahre-Klassiker wie «Pulp Fiction», «Get Shorty» oder «Matilda». Was hat Ihre Leidenschaft fürs Kino geweckt?
Stacey Sher: Ich bin in Fort Lauderdale, Florida, ohne Programmkino aufgewachsen. Mit meinem Vater schaute ich alte Filme: die Marx Brothers, Charlie Chaplin, Douglas Sirk. Nebst Musicals liebte ich Sydney Pollack und als Barbra-Streisand-Fan «The Way We Were». Die Bedeutung von Regiearbeit wurde mir bei zwei Filmen sehr bewusst: « A Clockwork Orange» und «Raging Bull».
Was brachte Sie nebst dem Einfluss Ihres Vaters auf Ihren Weg?
Zufall! Eine Lehrperson erzählte vom Filmstudium an der University of Southern California. Da wusste ich noch nicht, was der Job einer Produzentin ist. Mitte der 1980er-Jahre erwarb ich meinen Master. Ich fühle mich gesegnet, dass ich jeden Tag etwas tun kann, das ich liebe. Die Belohnung für diese Dankbarkeit und dafür, dass ich nie zynisch geworden bin, ist, dass ich immer noch Leidenschaft und Begeisterung für meine Tätigkeit empfinde. Ich habe meinen Platz gefunden.
Welche Filme sollte jede und jeder gesehen haben?
«The Wizard of Oz», «The Red Shoes», «Singin’ in the Rain», «The Godfather», «Annie Hall», alles von Hal Ashby – ich bin «Shampoo»-Fan – «Le Notti di Cabiria», «Amarcord», «Funny Girl», «The Rules of the Game» und «Jaws» – ein perfekter Film.
Sie sind in Florida in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Wie hat Sie dieses Umfeld geprägt?
Meine Grosseltern kamen als Kinder in die Vereinigten Staaten, meine Mutter ist Amerikanerin erster Generation. Ich bin wie meine Eltern in New York in eine der grössten jüdischen US-Gemeinden geboren und in einer Zeit aufgewachsen, in der sich diese sehr gewollt assimilierte. Wir waren uns unserer Identität bewusst, aber erst später habe ich Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht.
Inwiefern?
Es gab Zeiten, in denen ich die erste Jüdin war, der Personen begegnet sind. Ich erinnere mich, wie jemand meinen Hinterkopf berührte, um zu sehen, ob ich Hörner habe.
Wie absurd! Lassen Sie uns ins Heute zurückkehren. Ihre lange Zusammenarbeit mit Filmemachern wie Steven Soderbergh oder Quentin Tarantino ist ein Beweis Ihrer Vision. Was bedeutet Ihnen der am Film Festival Locarno verliehene Raimondo Rezzonico Award?
Es ist sehr ermutigend, dass in einer Zeit, in der die Produktionsarbeit unterschätzt wird, ein Festival wie Locarno – ein Pionier für neue Stimmen – den Wert dieser Arbeit erkennt.
Sie haben Filme und Serien über einflussreiche Frauen produziert, darunter «Erin Brockovich» und «Mrs. America». Wo steht die Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche?
Wie steht es überhaupt um die Gleichstellung? Man legt ein Scheinwerferlicht auf das Kino, aber eigentlich spiegeln wir die Welt. Je mehr Frauen sehen, dass sie bestimmte Dinge tun können, desto besser. Als ich ein Kind war, lief die Fernsehserie «That Girl». Die junge und nun grossartige Marlo Thomas spielte die Hauptrolle. Ich erinnere an ein Interview mit ihr, in dem es darum ging, dass ihr Vater ein berühmter Fernsehkomiker war und eine Sendung namens «The Danny Thomas Show» hatte. Die Manager des Senders holten Marlo zu sich und sie sagte ihnen, dass jede im Sender die Sekretärin, Frau oder Tochter von jemandem ist. Was wäre, wenn das Mädchen jemand wäre? Darum ging es. Sie war nicht verheiratet, hatte eine eigene Wohnung, einen Freund und fantastische Klamotten. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie sie als Werbespot-Schauspielerin diese fabelhafte Garderobe haben konnte. Aber sie hat mir gezeigt, dass es für Frauen ein anderes Leben gibt. Vielleicht kann auch mein Name eine junge Frau zu einer Filmkarriere ermutigen.
Ihr Erbe ging schon weiter: Ihre Tochter produzierte einen Oscar-ausgezeichneten Kurzfilm mit.
Sie gehörte einer Gruppe Highschool-Schülerinnen an, die Geld sammelten, damit einen Dokumentarfilm über die Armut in Indien drehten und die Organisation «The Pad Project» gründeten. Ich war nur als Cheerleaderin da. Diese Mädchen waren auf einer Mission, und es war eine grosse Ehre, als Date meiner Tochter zur Oscar-Verleihung zu gehen.
Eine wunderbare Geschichte. Was raten Sie angehenden Filmemacherinnen?
Ich sage es ungern auf die Nike-Art, aber wenn Sie Leidenschaft haben: Just do it! Die Werkzeuge sind da. Sehen Sie sich Filme an. Entwickeln Sie Ihren persönlichen Blickwinkel und Geschmack, erzählen Sie Ihre eigenen Geschichten. Wissen Sie, was Sie sagen wollen, und laufen Sie nicht dem Markt hinterher. Man kann sich auf Dinge spezialisieren, von denen die etablierten Leute keine Ahnung haben, weil man an der Basis der Kultur steht. Als ich Ende der 1980er-Jahre anfing, sagten die Leute: «Du hast es verpasst, die beste Zeit der Filmindustrie ist vorbei.» Und es gab Leute, die sagten: «Mit dir werde ich nie wieder arbeiten», und ich dachte, meine Karriere wäre zerstört. Dieses Gefühl ist real. Später kam die Pandemie. Man muss weitermachen, braucht eine Community und mehr als ein Projekt. Denn die sind wie Luftballons: An einem Tag steigt einer auf, am anderen verliert einer Helium.
Wie wirkt sich das Streaming auf Ihre Arbeit aus?
Streaming bietet allen einen besseren Zugang zum klassischen und zum Weltkino. Wenn Sie den ganzen Tag lang nur Kochsendungen sehen wollen, können Sie das tun. Aber es geht um Horizonterweiterung. Ich muss entscheiden, welcher der richtige Ort für eine Geschichte ist. Handelt es sich um eine lange Story, wie bei «Mrs. America»? Ist es eine fortlaufende Serie, ein zweistündiger Film? Es ist befreiend, dass es verschiedene Optionen gibt. Ich habe keine schnelle Antwort auf die Frage, ob ich einen Film streamen soll oder nicht, das regelt sich von selbst. Man kann nur versuchen, sich hohe Ziele zu stecken und die besten Geschichten zu erzählen, die einem am Herzen liegen.
Wofür hätten Sie gerne mehr Zeit?
Lesen, wandern, einfach abhängen, Ruhe. Leider kann ich momentan nicht wandern, weil ich mich gerade von einer Knieoperation erhole. Deshalb trage ich auch Turnschuhe – zu jedem Outfit.
Was waren Ihre Projekt-Highlights und warum?
Hätten Sie wie ich mehr als ein Kind, und jemand würde Sie nach Ihrem Liebling fragen, wären Sie nicht in der Lage zu einer Antwort. Ich liebe sie beide, wie auch alle meine Projekte. Sonst hätte ich nicht Jahre meines Lebens damit verbracht, an ihnen zu arbeiten. Manchmal ist es bei einem Film wirklich hart, aber er wird grossartig. Und wie bei einer Geburt vergisst man alles, sonst würde man es nie wieder tun. Zum Glück, denn danach hat man diese wunderschöne Sache.