Vor 100 Jahren zeichneten die französischen Surrealisten die Namen ihrer Lieblingsautoren auf ein Blatt Papier. So entstand eine Karte, auf der die Namenszüge von Rousseau, Hegel und de Sade wie Sterne leuchteten. Wir tragen alle eine solche Karte im Kopf. Wir setzen die Bücher unserer Lieblinge in Kontakt, bringen sie in ein unendliches Gespräch. Und würde man diese Kartografien in einer Suchmaske übereinanderlegen und vernetzen, käme es sicher zu wunderschönen Blind Dates!
Meine Lesebiografie fing mit Friedrich Nietzsche an, den ich in New York im Museum of Natural History zwischen Saurierskeletten mit dreizehn Jahren las. Dann kam der Tipp eines Freundes im Theaterkurs am Gymi: Arthur Rimbaud! Auf dem Skilift lernte ich die Zeilen aus dessen Jahrhundertwerk «Eine Zeit in der Hölle» auswendig. Danach konstruierte ich jeden Aufsatz auf Französisch auf der Folie dieser Sätze – und hatte statt die Note 3 plötzlich eine 5 bis 6.
Von Rimbaud führte der Weg dann zu den Surrealisten, deren berühmtes Manifest 1924 erschien. Sie wollten die Sprache vom Diktat der Nützlichkeit und Ökonomie befreien, sie aus dem Würgegriff von Politik und Profit in die reine Poesie erheben und dichteten wild drauflos, «ohne Kontrolle der Vernunft» – wie wenn sie auf der Couch in Freuds Praxis in Wien liegen würden. Es entstanden traumtänzerische Texte, Liebesbücher mit Hymnen an Paris und an kreative Frauen wie in André Bretons «Nadja».
Ansonsten kamen die Frauen nicht wirklich vor. Die Surrealisten waren Machos, ihre Manifeste kämpferisch und aggressiv. Da entspricht uns heute viel mehr das «Ungewisse Manifest» des Westschweizer Autors und Zeichners Frédérik Pajak, der rund um all die erwähnten Autoren eine Art Comic in zehn Bänden entwarf und uns sein Lesehirn wie eine Filmleinwand vor Augen führt: flirrend, verwirrend. Ungewiss, zaudernd und zart.
Jeder und jede von uns könnte ein solches Manifest aufzeichnen. In ihm würden unsere tiefsten Träume und Wünsche manifest. Denn unser Leben und unsere Lesebiografie überlappen sich. Die Bücher schreiben sich in unser Leben ein – und unsere Leben in unsere Bücher.
Jedes Büchergestell zeigt uns einen Blick ins Innerste seines Besitzers. Die Buchrücken tauchen wie Rücken von Delfinen aus den Tiefen des ozeanischen Ichs auf und werfen einander Bälle zu. Die Surrealisten liebten solche Spiele. Auch wenn man deren Manifest nicht kennt, trägt man es in sich in die Gegenwart. Denn Bücher und Ideen sind nie tot, sondern erwachen beim Lesen zu neuem Leben. Zu unserem Leben, wie wir es uns erträumen.