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Zweifel liest

Das sind Stefan Zweifels Buchtipps für den Frühling

Spazieren oder lesen? Natur oder Kultur? Warum denn überhaupt entweder oder? Unser Kolumnist rät zu einem Bummel im Frühling durch die Sprachlandschaften der Seele.

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Spaziert mit Stefan Zweifel durch den Frühling.

Spaziert mit Stefan Zweifel durch den Frühling.

Rita Palanikumar Photography

Wälder, in denen man sich verirrt wie in den eigenen Wünschen. Gletscher, eiskalt wie die böse Stiefmutter aus Schneewittchen. Glitzernde Seen, aus deren Tiefe die verdrängten Leidenschaften bei Sturmwinden hervorbrechen. Schluchten, tief in die Berge eingegraben wie Kindheitserinnerungen – die Natur war immer schon ein Spiegel der Seele. So streifte der Philosoph und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau durch die Wälder, die er als seine «Schreibstube» bezeichnete. Auf Jasskarten notierte er Ideen und Träumereien. Einmal erkundet er einen einsamen Wald, legt sich aufs Moos und fühlt sich wie Kolumbus, der einen unbekannten Kontinent entdeckt. Da hört er ein Klopfen, geht dem Geräusch nach und steht – vor einer Strumpffabrik. Er wundert sich und notiert: «Nirgendwo grenzen Natur und Zivilisation so nah aneinander wie in der Schweiz.» Sie sei, so meint der Aufklärer, eigentlich nichts anderes als ein vergrösserter Pariser Boulevard mit Häusern, die von wilden Gärten umgeben sind.

Vom Leben auf der Strasse

Auf Rousseaus Spuren werden später die Surrealisten in den Nächten in Pariser Parks vordringen und feststellen, weshalb man in ihnen gar nicht anders kann, als einander zu küssen! Bei einsamen Wanderungen in der Natur, aber auch bei Streifzügen durch nächtliche Städte, treten Psyche und Geografie in einen stillen Dialog. Die Pariser Situationisten nannten das Psychogeografie. Die Avantgardisten wollten die Leute nicht in die Museen locken, sondern ihr Leben auf der Strasse durch ungewohnte Situationen ändern: Sie fälschten Abfahrtszeiten von Zügen, damit man in einer falschen Stadt aussteigt und dort vielleicht jenseits der alten Familie spontan ein neues Leben beginnt – träumt davon manchmal nicht jeder und jede von uns?
Die situationistischen Architekten wollten ganze Stadtgebiete erstellen, in denen man nur spielen kann. Oder Häuser entwerfen, die in der Nacht auf Schienen leise ans Meer gleiten, wo man am Morgen unvermittelt erwacht – in einer neuen Landschaft, mit einer neuen Seele.
Gerade das Tessin und der Monte Verità bilden eine einmalige Seelenlandschaft. Was ist das Rätsel der Anziehungskraft dieses «Berges der Wahrheit»? Zum 150. Geburtstag von C. G. Jung erforschen der Stararchitekt Peter Zumthor und viele andere Gäste beim Festival Eventi letterari Monte Verità: Vom 10. bis 13. April können Besucher unter den blühenden Magnolien mit Tanz, Musik, Literatur und Psychologie eintauchen ins archetypische Reich der Fantasie und in Sprachlandschaften aus der ganzen Welt.

Umlaufbahnen

Ein Tag auf der Raumstation ISS dauert nur 90 Minuten, in 24 Stunden geht die Sonne 16-mal auf und unter.

Ein Tag auf der Raumstation ISS dauert nur 90 Minuten, in 24 Stunden geht die Sonne 16-mal auf und unter.

ZVG

Ein Tag auf der Raumstation ISS dauert nur 90 Minuten, in 24 Stunden geht die Sonne 16-mal auf und unter. Für die sechs Menschen an Bord sind die Tage angefüllt mit Arbeit und Pflichten, genau wie für uns acht Milliarden Erdlinge. Sie freuen sich über Fotos von den Schafen daheim, erschrecken über die Nachricht vom Tod der Mutter. Und geniessen, schwebend zwischen Erde und All, die Schönheit von Sonnenuntergängen.
Samantha Harvey, dtv, CHF 21.–
 

Mein Weg

In seiner Autobiografie erzählt der Banker aus der Finanzwelt, offenbart auch Persönliches wie sein Gesangsstudium in London.

In seiner Autobiografie erzählt der Banker aus der Finanzwelt, offenbart auch Persönliches wie sein Gesangsstudium in London.

ZVG

In seiner Autobiografie erzählt der Banker aus der Finanzwelt, offenbart auch Persönliches wie sein Gesangsstudium in London. Und seine tiefe Prägung durch Goethe. Sein Professor steckte ihn einst mit der Faszination für Faust an, der im Drama Geld drucken liess. Was die Finanzwelt im Innersten zusammenhält, was Alchemie und Bitcoin verbindet, darüber gibt das Buch und Ackermann selbst im Gespräch beim Schwyzer Literaturfest am 3. April Auskunft.
Josef Ackermann, Verlag Langenmüller, CHF 27.70 bei Galaxus

Singe ich, tanzen die Berge

Wie kaum eine andere kann die katalanische Autorin Irene Solà die Natur zum Sprechen und zum Klingen bringen.

Wie kaum eine andere kann die katalanische Autorin Irene Solà die Natur zum Sprechen und zum Klingen bringen.

ZVG

Wie kaum eine andere kann die katalanische Autorin die Natur zum Sprechen und zum Klingen bringen. Aus den Wolken lässt sie Sprachblitze über die Landschaft niedergehen, während Pilze heimlich flüstern, wie die Welt aus ihrer Perspektive aussieht. Hinter den Erzählungen der Rehe und Bären zeichnet sich eine Liebesgeschichte ab, die von kleinen Dörfern über Städte in die Einsamkeit führt, wo die zwei sich endlich finden. Für mich die schönste Entdeckung seit Langem!
Irene Solà, S. Fischer, ca. CHF 21.40

Proleterka

Dieses Jahr wird die 84-jährige Zürcherin, die in Mailand lebt, mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2025 für ihr Gesamtwerk geehrt.

Dieses Jahr wird die 84-jährige Zürcherin, die in Mailand lebt, mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2025 für ihr Gesamtwerk geehrt.

ZVG

Vor einem Jahr habe ich hier schon von Fleur Jaeggy geschwärmt, da hatte sie gerade den Gottfried-Keller-Preis gewonnen. Jetzt wird die 84-jährige Zürcherin, die in Mailand lebt, mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2025 für ihr Gesamtwerk geehrt. «Proleterka», mein Favorit, ist erschütternd, ein Meisterwerk der Autofiktion, lange bevor das Genre in Mode kam.
Fleur Jaeggy, Suhrkamp, CHF 19.90 bei Orell Füssli

Schmetterlinge zählen

Auf den felsigen Inseln vor Stockholm entdeckt der Autor sage und schreibe 78 Arten von Schmetterlingen, die er so anschaulich wie humorvoll beschreibt.

Auf den felsigen Inseln vor Stockholm entdeckt der Autor sage und schreibe 78 Arten von Schmetterlingen, die er so anschaulich wie humorvoll beschreibt.

ZVG

Bei einer Reise ins Engadin verglich Marcel Proust den Flug der Schmetterlinge über dem Silsersee mit dem Seelensee in unserer Psyche. Die Verpuppung der Schmetterlinge gilt den Menschen als Vorbild für die innere Wandlung seit der Antike. Auf den felsigen Inseln vor Stockholm entdeckt der Autor sage und schreibe 78 Arten von Schmetterlingen, die er so anschaulich wie humorvoll beschreibt. Im Band 104 von Naturkunden setzt die gefeierte Buchgestalterin Judith Schalansky neue Massstäbe.
Fredrik Sjöberg, Matthes & Seitz, Reihe Naturkunden, CHF 32.30 bei Ex Libris
 

Von Stefan Zweifel vor 17 Stunden