Für eine Reise in die Vergangenheit, zurück in die selige Kindheit, verziehe ich mich unter die Bettdecke und schlage ein Kinderbuch von früher auf. Schon stapft mit schwerem Schlag das Holzbein von Long John Silver über die Planken des Schiffes, und ich horche mit hüpfendem Herz, wie die Piraten schimpfen und fluchen und den Schatz der Schatzinsel an sich reissen wollen. Dabei blättere ich die Bilder durch, denn die Ausgabe von Robert Louis Stevensons Abenteuerklassiker, die mir mein Vater zu Weihnachten 1977 schenkte, war reich bebildert, mit Plänen der Insel, Zeichnungen aller möglicher Donnerbüchsen und Skizzen von allen Schiffstypen. Ein bisschen hat damals mein Vater das Buch offenbar auch sich geschenkt, denn er ist ein leidenschaftlicher Segler.
Wenn ich dann in diesem Buch lese, höre ich auch die Stimme meines Vaters. Und ich denke, vielleicht wird an Weihnachten in zwanzig Jahren, also so um 2044, mein Sohn seinem Kind «Harry Potter» vorlesen und wie ich eine Stimme für den Hauself Dobby erfinden, die ihn zum Lachen brachte – aber nicht am Weinen hindern konnte, als Dobby starb. Ich las «Harry Potter» zuerst rasch gerafft auf Zürichdeutsch vor, aus der englischen Ausgabe frei und sicher sehr falsch übersetzend, und erst Jahre später vollständig auf Schriftdeutsch. Bis heute sitzt mir der Schreck in den Knochen, dass ich damals den Abschnitt über Dobbys Tod nicht übersprungen habe. Aber vielleicht vereint uns 2044 gerade diese Erinnerung an das Lachen – und Weinen. Ans Leben eben.
Zwei wunderschöne Editionen, die Gross und Klein beglücken: «Das Dschungelbuch» von Rudyard Kipling im Original, prachtvoll illustriert von MinaLima, erschienen bei Coppenrath. Im Vergleich zur Trickfilmversion von Walt Disney ist das Buch ein wahrer Ideenirrgarten, durch den auch das Stachelschwein Ikki trippelt. Die Illustrationen springen einen an wie die wilden Affen, man versinkt in ihnen wie im Maul der Schlange – und das Ende ist ganz anders als im Film. Wie? Nachlesen lohnt sich!
Und «Moby-Dick oder: Der Wal». Eine sprachgewaltige Übersetzung von Friedhelm Rathjen, mit holzschnittartigen Illustrationen von Raymond Bishop, im Verlag Jung und Jung. Bekannt sind nur wenige der 135 Kapitel, vorwiegend die letzten 3, wo der Wal gejagt und getötet wird. Davor aber gibt es wunderliche Kapitel über die Form der Walschädel, Ausschweifungen über die Farbe Weiss, die so unheimlich ist wie Gespenster, Eisbären und der weisse Hai. Dann wieder liegt man seitenweise schwer schwitzend in der schwülen Flaute der Südsee in der Hängematte wie die Piraten vor der Schatzinsel. Beim Wegdämmern erinnert man sich an den eigenen Vater, mit Igelstacheln, die er aus seinem Segelschiff nach dem weissen Wal wirft. Vielleicht ist das Leben ja nur ein Traum?