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Mittelklasse

Eine kleine Story aus dem Patriarchat

In Afghanistan wurden den Frauen mehr oder weniger alle Rechte abgesprochen. Im Irak sollen bald schon neunjährige Mädchen verheiratet werden dürfen. In den USA wird ein verurteilter Sexualstraftäter zum Präsidenten gewählt, der damit prahlt, Frauen ungefragt zwischen die Beine zu greifen. Aber bei uns, denken wir, ist alles ganz anders. Nicht wirklich, sagt unsere Kolumnistin Sandra Casalini.

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Sandra Casalini, bei sich zu Hause in Thalwil, am 04.12.2018, Foto Lucian Hunziker

Unsere Kolumnistin würde sich wünschen, dass wir schon ein bisschen weiter in in Sachen Gleichberechtigung wären.

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Es tut mir leid. Ich weiss, ihr habt gehofft, an dieser Stelle total witzige Anekdoten aus meinem Leben zu lesen. Das kommt, versprochen. Zum jetzigen Zeitpunkt fällt es mir aber schwer, zu dem, was momentan mit uns Frauen passiert, zu schweigen. Deshalb möchte ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Meine Geschichte.

Ich war 16, als meine Eltern sich trennten. Ich blieb auf eigenen Wunsch bei meinem Vater. Dieser war zu jener Zeit depressiv und suizidgefährdet, und ich hatte Angst um ihn. Mir war das damals nicht bewusst, aber ich tat nichts weniger, als mir die Verantwortung für ihn, sein Glück, sein Unglück und sein Leben auf die Schultern zu laden. Meine Mutter versuchte, das zu verhindern, aber sie hatte keine Chance – das (männliche) Gericht sprach mich, entsprechend meinem Wunsch, meinem Vater zu. Sie war die Böse, weil sie ihren Mann und ihre Tochter verlassen hatte. Das hat nie jemand hinterfragt.

Die ideale Frau gibt sich selbst auf 

Ein gutes Jahr später war ich an dem Punkt angelangt, an dem wohl meine Mutter vor der Trennung war. Ich konnte nicht mehr. Mit gerade mal 17 hatten mich die immense Verantwortung – und die regelmässigen Suizid-Androhungen – kaputt gemacht. Ich entschied mich für die Flucht, beziehungsweise für einen Auslandaufenthalt, meine Mutter unterstützte mich.

Was diese Geschichte mit dem Patriarchat zu tun hat? Alles. Warum übernimmt ein 16-jähriges Mädchen so selbstverständlich die Verantwortung für seinen Vater? Weil das Patriarchat, in dem es aufgewachsen ist, es für selbstverständlich hält, dass Frauen verantwortlich sind für das Glück der Männer in ihrem Leben. Und vor allem für ihr Unglück. Warum lädt ein Mann diese Verantwortung lieber seiner Teenager-Tochter auf, statt sich professionelle Hilfe zu holen? Weil das Patriarchat, in dem er lebt, ihm sagt dass das schwach und unmännlich ist. Warum wird eine Frau, die nicht mehr bereit ist, Verantwortung für das Glück eines Mannes zu übernehmen, dermassen angegriffen und stigmatisiert? Weil das Patriarchat uns Frauen die Rolle der Mutter Gottes zuschreibt. Die ideale Frau gibt sich selbst auf, für das Glück ihres Mannes und ihrer Kinder (und für alle anderen auch).

«In vielen Teilen der Welt werden Frauenrechte mit Füssen getreten, und auch bei uns sind Misogynie und toxische Männlichkeit alltäglich»

Mein Fazit: Das Patriarchat schadet uns allen. Auch den Männern. Ich hätte gehofft, dass heute, über 30 Jahre später, die Dinge anders sind. Sie sind es leider nur geringfügig. In vielen Teilen der Welt werden Frauenrechte mit Füssen getreten, und auch bei uns ist Misogynie genauso alltäglich wie toxische Männlichkeit. Dass ein verurteilter Sexualstraftäter US-Präsident wird – gewählt auch von Millionen von Frauen! – zeigt: Wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns. Wann merken wir, dass wir diesen gemeinsam gehen müssen?

Von SC am 24. November 2024 - 07:30 Uhr