Zwei Dinge sind passiert im Dezember: Mama hat gesagt, ich soll sie nicht mehr Mama nennen, sondern Eve. Englisch ausgesprochen, Iiv. Ausgerechnet. Wie Yves in meiner Klasse, der mir seit den Herbstferien schon dreimal aufgelauert hat auf dem Heimweg. Früher sind wir ganz okay ausgekommen. Aber seit er mit seinem Vater in Florida war – Disneyland, wir können es alle nicht mehr hören – ist er schlecht drauf. Kürzlich hat er Mara, die vor ihm sitzt, eine richtig dicke Haarsträhne abgeschnitten, ganz nah am Kopf, man sieht immer noch die kahle Stelle.
Alles in allem war dieses Schuljahr besser als das letzte, vor allem, seit ich ein Goal geschossen habe im Fussball. Nur aus Versehen, aber trotzdem. Die anderen Jungen hauten mir auf die Schulter und riefen «sauber!» und dann stellte sich heraus, dass ich wirklich gar nicht so schlecht bin. Wenn ich keine Angst habe. Jetzt ist es nur noch Yves, der mich plagt. Und nicht nur mich.
Mama sagt, es macht sie alt, einen so grossen Sohn zu haben. Ich bin elf und nicht besonders gross. Aber es hat keinen Sinn, sich mit Mama anzulegen. Mit Eve. Eve und Yves. Nein, ich kanns nicht, ich kriegs nicht hin.
Das zweite Ereignis im Dezember war die Katze, die uns zugelaufen ist. Eines Tages war sie einfach da, im Lift. Sie fuhr mit mir in den achten Stock hinauf und folgte mir dann in die Wohnung, als lebte sie da. Mit uns.
Die Katze heisst Butler, weil sie so ein weisses Dreieck auf der Brust hat, wie ein Hemdkragen in einem schwarzen Anzug. Mama hat einen Anschlag gemacht unten im Hauseingang, aber es hat sich niemand gemeldet. Mir ist es recht, ich mag Butler, ich rede mit ihm, wenn ich auf dem Sofa sitze und game, sitzt er neben mir und schnurrt.
Jetzt folgt er mir aus der Wohnung und zum Lift. Er fährt gerne Lift, und manchmal fahren wir zusammen ein paar Mal rauf und runter, und dann komm ich wieder zu spät zur Schule. Aber jetzt sind Ferien, und ich habe Zeit.
Nicht wirklich, ich soll Mama zum Weihnachtssingen treffen. Sie arbeitet über Weihnachten, das Spital kennt keine Feiertage, und das Labor kann auch nicht einfach zumachen. Wir müssen sozial denken, das ist wichtig. Mein Papa ist auch sehr sozial, er baut Brunnen in Ländern, wo es wenig Wasser gibt und wo, sagt Mama, «die Leute denken, er sei Gott». Meine Eltern sind geschieden, aber ehrlich gesagt war er früher auch fast nie zu Hause. Bis jetzt war ich über Weihnachten immer bei meinen Grosseltern im Welschland, das war schön. Aber letztes Jahr sind sie beide gestorben, erst er, dann sie, ganz kurz nacheinander. Mama sagt, das ist typisch für Leute, die lange verheiratet waren. Immerhin, das kann ihr nicht passieren.
Die Lifttür ist mit goldenen Sternen beklebt und ums Treppengeländer sind Glitzergirlanden gewickelt. Im Eingang hängt ein Adventskranz von der Decke, ohne Kerzen natürlich. Mama sagt, es sei aufdringlich: «Was ist mit Leuten, die keine Weihnachten feiern? Oder die über die Feiertage allein sind?» Das trifft ja auf mich auch zu, genau genommen. Aber mich macht die Dekoration nicht traurig.
Butler muss hinter mir in den Lift geschlüpft sein. Ich sehe ihn erst in dem Moment, in dem die Türe zugeht. Jetzt müssen wir wieder rauffahren, und ich werde zu spät kommen und Mama wird sich ärgern. Ich soll an die Kinder denken, die über die Feiertage im Spital bleiben müssen, sagt sie immer, wenn ich mich beklage. Aber ich beklage mich fast nie. Der Lift hält im dritten Stock, ich stelle einen Fuss in die Tür, damit Butler nicht gleich wieder abhaut, da steigt ein alter Mann in Hut und Mantel über mein Bein hinweg. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich sehe ihn oft. Er hat immer ein Buch in der Tasche und manchmal sitzt er im Bushäuschen und liest.
«Da bist du ja», sagt er. Er bückt sich zu Butler herunter und streichelt ihn, und der Verräter schnurrt auch noch. «Da bist du ja, James. Ich hab dich überall gesucht!»
«James?», rutscht mir heraus.
«Wie Bond, James Bond.» Der Mann richtet sich auf, die Katze auf dem Arm, als gehörte sie ihm. «Wegen dem Smoking.» Er zeigt auf ihre Brust. Ich muss ihn komisch angeschaut haben, denn er erklärt mir, dass ein Smoking ein besonders eleganter schwarzer Abendanzug ist. Wir hatten also dieselbe Idee.
«Ist das Ihre Katze?», frage ich ihn weiter.
«Er ist mir zugelaufen. Ich hab einen Anschlag gemacht hier im Lift, aber es hat sich niemand gemeldet...»
«Hm.»
«Du bist Marco, nicht wahr? Marco Müller aus dem achten Stock? Ich kannte deinen Vater. Guter Typ. Wichtige Arbeit.» Er streckt seine Hand aus und Butler/James springt von seinem Arm herunter.
«Arzani mein Name», sagt der Mann förmlich. «Freut mich.»
«Mich auch.» Das stimmt nicht ganz, denn ich nehme an, er wird Butler zu sich mitnehmen. Butler, James. Wem von uns ist er wohl zuerst zugelaufen?
«Kommt dein Vater über die Feiertage heim?», fragt Herr Arzani. «Wenn ja, sag ihm, er soll bei mir klingeln, dritter Stock links, ich würde ihn gern wieder einmal sehen.»
Ich auch, denke ich. Ich auch.
«Ich geh zum Weihnachtssingen ins Spital.»
«Oh, zu den kranken Kindern, das ist nobel von dir.»
Ich zucke mit den Schultern. «Nicht wirklich», murmle ich, «meine Mutter zwingt mich dazu.» Das wollte ich gar nicht sagen, aber er lacht.
«Verstehe.»
Der Lift hält im Parterre, die Tür geht auf, und diese Frau mit den grünen Haarsträhnen steht vor uns. Mama unterhält sich manchmal mit ihr, ich glaube, sie heisst Yvonne.
«Da bist du ja, du kleine Ausreisserin», ruft sie und hebt Butler/James auf. Herr Arzani und ich schauen uns nur an.
«Lassen Sie mich raten, sie ist Ihnen zugelaufen», fragt er und deutet eine kleine Verbeugung an. Die Frau steht schon in der Kabine und drückt die Etage 6.
«Nein, ich habe Liza, seit ich hier wohne, seit sie ein Baby ist.»
«Liza?»
«Minelli.» Als müsste ich wissen, was das heisst. Herr Arzani scheint mit dem Namen etwas anfangen zu können, er nickt und sagt «Cabaret», was mich noch mehr verwirrt.
«Genau! Ich meine – sagt selbst, wie sollte sie sonst heissen?»
Wieder tauschen wir einen Blick, und Herr Arzani verbeisst sich ein Lächeln. Er scheint nicht weiter traurig darüber, dass seine Katze gar nicht seine Katze ist. Ich schon. Ich strecke den Arm aus und streichle Butler, den Verräter. Ich hab ganz vergessen, auszusteigen, und jetzt sind wir schon wieder oben.
«Hey, Marco, gehst du nicht auch in die fünfte Klasse?»
Auch?, denke ich, aber ich nicke und sie nickt auch. Jetzt sind wir im sechsten Stock angekommen.
«Ich bin Yvonne, erinnerst du dich? Dann komm doch mal mit.»
Die Katze mit den drei Namen geht voraus und zeigt uns den Weg. Vor der mittleren Tür bleibt sie stehen, das ist immer die kleinste Wohnung, die in der Mitte. Vielleicht ist Butler deshalb zu uns gekommen, weil unsere Wohnung grösser ist. Wir haben sogar einen Balkon. Aber klar, da darf er nicht raus. Mama hat Angst, dass er runterspringt.
Vor der Tür bleibt Yvonne stehen und zieht mich zur Seite. «Du kannst mir helfen», flüstert sie leise. «Und Sie vielleicht auch», wendet sie sich an Herrn Arzani, der uns ganz selbstverständlich gefolgt ist. Oder vielleicht sind wir alle der Katze gefolgt.
«Ich hab nämlich meinen Neffen bei mir über die Feiertage, armer Kerl, die Eltern haben sich letzten Herbst getrennt, fürchterliche Kampfscheidung, echt, ich schäme mich für meinen Bruder, der benimmt sich wie das letzte... Entschuldigung. Aber ihr wisst, was ich meine. Und mal ehrlich, was gibt es Schlimmeres als die Feiertage und die Ferien mit der komischen Tante und ihrer Katze zu verbringen? Ich habe noch nicht mal einen Fernseher, geschweige denn eine Dings-Konsole!»
«Ich verstehe.» Herr Arzani verbeugt sich formvollendet. «Ganz zu Ihren Diensten, gnädige Frau.»
«Gnädige Frau!» Yvonne hält sich die Hand vor den Mund und kichert wie ein Schulmädchen. «Ihr seid super. Eve hat es wirklich nicht leicht...»
Was hat jetzt meine Mama damit zu tun, frage ich mich noch, aber da wird die Wohnungstür von innen geöffnet. Yves steht vor mir. Yves, nicht Eve. Er starrt mich an. Ich starre ihn an.
«Ich hab Fifa», sage ich. «Mein Vater hat mir das Spiel geschickt, ich hätte es erst an Weihnachten auspacken dürfen, aber wen kümmerts …» Und die Katze streicht um unsere Beine.