Ein Plätzchen in Uerikon ZH, direkt am See. Die Wellen klatschen an den hauseigenen Steg. Man hört sie vom Gartensitzplatz aus. Hier angekommen, fühlt man sich wie in den Ferien. «Ferien!», ruft Carmen Meier-Meister. «Ferien sind für mich ein Reizwort.»
Die gebürtige Bündnerin und Wahlzürcherin will auf keinem Liegestuhl liegen. Sie finde keine Ruhe dort. «Ich habe unendlich Energie. Ich muss unterwegs sein können.» Carmen Meier-Meister ist 72 Jahre alt. In einem Alter, wo andere ihren Enkelkindern nachrennen oder den Garten umgraben, läuft sie in hohen Hacken über den Laufsteg der Pariser Fashion Week für eine französische Modeschule, reist schnell nach Hamburg, um für Toffifee in die Kamera zu lächeln. Oder nach Bulgarien, um sich für eine Modestrecke im Magazin «Elle» fotografieren zu lassen. Oder nach London, um für ein Luxusaltersheim zu werben. Gekleidet in Armani.
Angefangen hat die gelernte Kosmetikerin ihre Modelkarriere, da war sie 60 Jahre alt. Sie habe auf der Alp geholfen, Schafe zu hüten, und sich danach auf der Terrasse eines Hotels im Engadin ausgeruht. Dort wurde sie von einer Fotografin angesprochen. «Ob ich bei einem Werbeshooting für Schweiz Tourismus mitmachen wolle?» Meier-Meister grinst, wenn sie daran denkt, wie sie da wohl ausgesehen hat. In schmutzigen Kleidern, erschöpft. «Aber ich bin jemand, der bei solchen Angeboten nie Nein sagt.» Das Schlimmste, was passieren könne? Es klappt nicht, und dann macht man halt etwas anderes. In diesem Fall hat es geklappt. «Es vergeht kein Tag, an dem keine neue Anfrage reinkommt», sagt sie und lacht ihr glitzerndes Lachen.
Immer lacht sie. Mit offenem Mund, funkelnden Augen und all den Charakter-Altersfältchen, die sie gar nicht verstecken will. «Ohne Lippenstift gehe ich nicht einmal zum Briefkasten», sagt Meier-Meister. Ansonsten sucht man in ihrem Gesicht vergeblich nach Künstlichem. Den Verlust der Jugend beweint sie nicht. Fragt man sie, wie alt sie sich fühle, antwortet sie: «Null und hundert. Null Probleme. Hundert Prozent Spass.» Man könne nicht ständig einen Krieg gegen sich selbst führen.
Gegen den Mainstream, gegen ein eindimensionales Schönheitsideal
«Man muss sich so akzeptieren, wie man ist. Meine ersten grauen Haare hatte ich mit zwanzig, wurde deswegen oft angepöbelt. Aber sie färben zu lassen, kam nicht infrage.» Genauso wenig kommt ihr Botox unter die Haut. Falten kommen schliesslich einfach. Sie weiss alles über medizinische Kosmetik, kenne alle Möglichkeiten, die man hat, und wisse, dass es nun einmal Dinge gibt, die man nicht aufhalten kann. «Der Mainstream gibt einem vor, wie man auszusehen hat. Immer jung, immer straff.» Dieses eindimensionale Bild von Schönheit zu ändern, dabei möchte sie mithelfen.
Je mehr solche Frauen es gibt, je sichtbarer sie sind, desto besser. Wenn man älter wird, verschwindet man nicht einfach. Man müsse sich nicht sofort die Haare abschneiden, dürfe noch immer alles anziehen, was man möchte. Das Leben ist nicht vorbei, es fängt nur etwas Neues an. Man kann auch noch einmal komplett von vorne beginnen.
Sich so nehmen, wie man ist. Tun, was man möchte. Fitness macht sie nicht. «Ich bin genug unterwegs den ganzen Tag. Das reicht doch, oder?» Auf Trends verzichtet sie. «Wenn ich jede Mode mitmache, bin ich ja die ganze Zeit von gestern. Ich liebe das Muster Vichy-Karo, aber am liebsten trage ich Schwarz. Dazu braucht es eine Menge Selbstbewusstsein. Es gibt keine Ablenkung, der Fokus liegt ganz auf dir.»
Wenn ich jede Mode mitmache, bin ich ja die ganze Zeit von gestern»
Carmen Meier-Meister
In ihrem Daheim liegt der Fokus auf dem See. Grosse Fensterfronten geben den Blick darauf frei. Davor Designklassiker und Kunstwerke – und viel Weissraum. Aufgeräumt wie in einem Museum. Meier-Meister ist eine Perfektionistin, nach Aussage ihres Ehemannes Peter Meier, 77, «eine Tüpflischisserin».
Der ehemalige Partner eines Zürcher Architekturbüros überlässt die Führung zu Hause lieber seiner Frau. «Er unterstützt mich bei allem. Mit 42 hatte ich genug von meinem Beruf als Chefsekretärin in einer Psychiatrie. Ich wollte Kosmetikerin werden. Er schlug mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und rief: ‹Das machen wir!› Aber im Haushalt muss er mir nicht reinreden.»
Seit bald 40 Jahren sind sie zusammen. Eine kleine Familie. Ihre Eltern und ihr Bruder sind verstorben. Kinder wollte sie nie. «Dafür bin ich zu wehleidig.» Doch vor allem schätzt die Rentnerin ihre Freiheit. «Vielleicht ist das egoistisch, aber ich möchte nicht, dass jemand von mir abhängig ist, und ich will es auch nicht sein.»
Weitermachen will sie, solange sie noch könne und gefragt sei. «Ich mag neue Herausforderungen und habe viel Spass dabei!» Dabei Ja zu sagen, zu all den Möglichkeiten, die das Leben mit sich bringt. Auch wenn die einen im ersten Moment überfordern könnten.
Sie denkt strahlend an ihre erste Modeschau im KKL Luzern. Daran, wie sie am Sonntagmorgen davor noch einen Laufsteg-Crashkurs machte. Sich diesen speziellen Gang aneignete. Lernte, wie man diese ausladenden Haute-Couture-Kleider präsentiert. Wie man auf dem Laufsteg ganz vorne posiert, sich umdreht, kurz vor dem Rückweg noch einmal über die Schulter schaut, einen letzten Blick ins Publikum wirft – so im Stil von: «Hats Ihnen auch gefallen?» Dann läuft man retour. Nächstes Abenteuer.
Veranstaltungshinweis: Carmen Meier-Meister ist bei Scout Model Agency und läuft am Montag, 12. September zum zweiten Mal für die Mode Suisse. Das Epizentrum der Schweizer Modeindustrie feierte im Erweiterungsbaus des Zürcher Kunsthauses Labels wie amorphose, Ja