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Mittelklasse:

Habe ich das Leben hinter mir?

Der Sohn unserer Kolumnistin erklärt dieser auf unvergleichlich charmante Weise, ihr Leben sei mehr oder weniger vorüber. In gewisser Weise hat er ja recht. Zumindest ist das Leben im mittleren Alter nicht mehr so aufregend wie in der Jugend – zum Glück. Dabei findet es Sandra C. durchaus aufregend, ihre Kinder noch ein Stück zu begleiten.

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Sandra Casalini Blog der ganz normale Wahnsinn

Waschen, kochen, arbeiten – der Alltag im mittleren Alter ist zuweilen sehr beschaulich. Zum Glück.

Lucia Hunziker

Weisst du», sag ich zu Kind 2, das sich mal wieder darüber auslässt, dass es so viel arbeiten muss in der Lehre, «du bist nicht der einzige, der viel schaffen muss. Ich zum Beispiel, arbeite ebenfalls ziemlich viel.» Die Antwort erfolgt prompt und mit seinem unvergleichlichen Charme: «Ja du! Du hast dein Leben ja auch schon hinter dir!»

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kind 2 weder denkt noch hofft, dass ich in Kürze das Zeitliche segne. Was mein Sohn wohl eher meint mit dieser charmanten Aussage: In meinem Leben passiert nicht mehr so viel wie in seinem. Ich gehe zwar davon aus, dass mein 18-Jähriger uns mittelalte Menschen etwas unterschätzt. Wir haben durchaus noch Freude am Leben, liebe Gen Z. Wir treffen uns noch mit Freunden und gehen feiern. Obwohl wir danach drei Tage brauchen, um uns zu erholen. Und ja, auch wenn ihr euch das weder vorstellen könnt noch wollt: Wir haben auch noch Sex. Vermutlich besseren als ihr.

«Manchmal ist die schwierigste Entscheidung, die ich an einem Tag treffe, die nach dem Znacht.»

Trotzdem hat Kind 2 irgendwie recht, wenn es sagt, dass mein Leben zu einem guten Teil gelaufen ist. Denn mit dem Schwinden der Lebenszeit, die vor einem liegt, schwinden auch die Möglichkeiten von Wegen, die man einschlagen kann. Klar, ich kann immer noch vieles. Aber vieles eben nicht mehr. Versteht mich nicht falsch, ich finde, ich bin an einem grossartigen Punkt im Leben: Ich habe zwei Kinder grossgezogen, mich beruflich etabliert, schwere Zeiten wie den frühen Tod meines Vaters oder eine Trennung durchgestanden, mich verloren, mich wiedergefunden, mich nochmal verliebt. Aber es gibt diese Momente – selten zwar, aber es gibt sie – in denen ich dieses Gefühl vermisse: Das Gefühl, dass alles möglich ist. Diese Zeit, in der man Dutzende von Wegen einschlagen kann. Und keiner dieser Wege ist falsch. Manche kreuzen sich irgendwo, andere nicht. Manche hält man sich länger offen als andere. Und jeder Schritt, den man geht, jede Richtung, die man einschlägt, ist irgendwie aufregend.

Diese Aufregung, das stimmt, gibts für mich nicht mehr. Manchmal ist die schwierigste Entscheidung, die ich an einem Tag treffe, die nach dem Znacht. (Es klingt banal, ist aber unter Umständen echt kompliziert, da man nie weiss, wer wann zu Hause ist, und welche kulinarische Abneigung Kind 2 gerade wieder entwickelt hat). Aber wisst ihr was? Das ist total in Ordnung so. Irgendwann braucht man nicht mehr so viel Action und freut sich über jeden ruhigen Tag (das gilt insbesondere für Frauen in den Wechseljahren!). Und etwas vom Schönsten am Kinderhaben ist ja folgendes: Man erlebt ganz vieles noch einmal. Nicht gleich wie damals, sie sollen ihr eigenes Leben leben und um Himmels Willen nicht meines wiederholen! Aber die Stationen sind immer wieder dieselben, und sie auf ihrem Weg zu begleiten ist unglaublich toll. Meine Kinder sind gerade in dieser Phase der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich sehe sie zaudern, vorwärtsgehen, rückwärtsgehen, vorpreschen, abwarten. Manchmal sind sie frustiert, manchmal schwappen sie über vor Freude. Und ich mit ihnen. In diesem Sinne, mein lieber Sohn: Solange ich dein Leben noch begleiten darf, habe ich meines keinesfalls hinter mir.

Von SC am 7. April 2025 - 09:32 Uhr