«Ich kam mit dem amerikanischen Traum in die USA»

Wann merkt ein Designer, dass er es nun geschafft hat? Wenn ihn ganze Schulklassen verfolgen. Wo immer SangYup Lee im Jahr 2010 im US-Bundesstaat Michigan an einer Ampel hält, geraten die Kinder auf dem Trottoir aus dem Häuschen: «Bumblebee, Bumblebee!» Bumblebee, zu deutsch Hummel: Diesen Namen trägt ein quietschgelber Chevrolet Camaro in den «Transformers»-Filmen, in denen als Autos getarnte Roboter für das Gute in der Welt kämpfen. Lee hat die uramerikanische Sportwagenikone gerade für den US-Autoriesen General Motors GM wiederbelebt. Und sammelt nun am Steuer eines Vorserienfahrzeugs auf den Strassen von Detroit die verdiente Anerkennung ein.

Von Seoul nach Los Angeles

Inzwischen leitet der Jungspund von einst das Design des südkoreanischen Autobauers Hyundai und dessen Luxusmarke Genesis. Der Weg dorthin erscheint so unglaublich wie der Flug der Hummel – am meisten für Lee selbst. Er habe seinen Mentoren alles zu verdanken, betont er und verschweigt, wie viel Talent und Mut ein 25-jähriger Südkoreaner Mitte der 1990er-Jahre brauchte, um ohne Plan in die Welt zu gehen.

«Ich hatte keine Ahnung, war ein unbeschriebenes Blatt»

Im Jahr 1969 in der Hauptstadt Seoul geboren, startet Lee mit nur zwölf Jahren an der Kunsthochschule, studiert Skulptur und Installation – und spürt, dass sich ohne Glück darauf keine Karriere bauen lässt. Verunsichert bereist er Europa und die USA, lässt sich treiben. Bis er in Los Angeles Designstudenten bei der Arbeit an einem Auto-Tonmodell beobachtet. «Ich hatte keine Ahnung, war ein unbeschriebenes Blatt», erinnert sich Lee. Aufgewachsen mit nahezu designfreien Daewoos und Kias, lag ihm jede Formkultur fern. «Aber das hier verstand ich – Ton, das Handwerk, das Feilen an der Form.»

Neue Herausforderungen

Nach dem Abschluss am ArtCenter College of Design in L. A. saugt ihn die Branche auf. Er hospitiert bei Porsche, schabt bei Pininfarina am Ferrari Enzo, stylt bei General Motors die Corvette neu und reanimiert den Camaro. Nach zehn Jahren heuert er im kalifornischen Studio von Volkswagen an und sucht die Herausforderung im Bauhaus-Prinzip der Form, die der Funktion folgt: «Sportwagen konnte ich – aber wie man einen VW Golf gestaltet, war mir unerklärlich.» Die deutsche Direktheit ist ein Kulturschock, aber Luc Donckerwolke, der einst mit dem Donnerkeil Murciélago die VW-Tochter Lamborghini rettete, wird zum Sparringpartner und Freund: «Ein Grenzgänger wie ich – ein Belgier, der italienische Sportwagen zeichnet.» Als der 2013 zum Bentley-Designchef ernannt wird, folgt ihm Lee in die britische Provinz.

«Sportwagen konnte ich – aber wie man einen VW Golf gestaltet, war mir unerklärlich.»

Drei Jahre später dann der gemeinsame Schritt zu Hyundai. Der Konzern plant eine Luxusmarke aus dem Nichts, und die beiden sollen sie aufbauen. Für Lee der Schritt zurück in die Heimat, die sich in 24 Jahren völlig verändert hat. Aber sein Zuhause ist für ihn kein geografischer Ort, sondern der, an dem er seine Freunde trifft – ein Credo, das auch seine Interieurgestaltung prägt. Inspiration holt sich Lee dazu überall ausserhalb des Büros, aber am liebsten nach Feierabend auf Supermarktparkplätzen. Wenn man beobachte, wie Menschen ihre Einkäufe einladen, ihre Kinder angurten, einsteigen – dann sehe man so vieles, was sich verbessern liesse.

Bei GM verbringt Lee die Pausen im Fotoarchiv, um Marken und ihre Historie zu verstehen, bevor er den ersten Strich aufs Papier wirft. Bei Genesis muss er raus aus der Komfortzone und die Vision der Marke erst noch entwickeln: Ein natürlicher Teil des Lebensstils ihrer Kunden zu werden, zeitlose Eleganz zu verkörpern und höchste Bedeutsamkeit in jede Feinheit zu legen. Genesis müsse mit allen Sinnen spürbar sein, sagt Lee: Obwohl er rund fünfzig Unternehmen in der Hyundai-Gruppe leite, nehme sich Chairman Chung Eui-sun Zeit für jedes Detail.

Bei der Verleihung der World Car Awards kürte eine internationale Jury SangYup Lee im Mai dieses Jahres als erst zweiten Designer überhaupt zur «Car Person of the Year», zur global einflussreichsten Persönlichkeit der Autobranche. Preisträger des Vorjahres: Luc Donckerwolke. «Ich kam mit dem amerikanischen Traum in die USA», sagt Lee. Er ist wahr geworden.