Man muss ja nun nicht so weit gehen wie der Dramatiker Bertolt Brecht (1898–1956): Kunst sei kein Spiegel, der der Gesellschaft standhält, «sondern ein Hammer, mit dem sie geformt werden kann», beschied er einst. Doch eine gewisse verändernde Kraft kann der künstlerischen Auseinandersetzung mit den wie auch immer herrschenden Verhältnissen niemand absprechen. Allerdings zeigen sich diese Verhältnisse oft nicht gerade begeistert von Wandel und Veränderung. Denn beides bringt Unsicherheit und Risiko ins Geschäft. Warum leistet sich also ein global tätiger Konzern wie Mercedes-Benz eine eigene Kunstsammlung? Und holt sich damit potenzielle Kritik auch am eigenen Tun ins Haus?
«Jedem in unserem Konzern ist völlig klar, dass die Mercedes-Benz Art Collection genau dafür da ist, gesellschaftliche Diskurse aufzugreifen», sagt Anne Vieth, 44. Seit knapp 18 Monaten leitet die promovierte Kunsthistorikerin die Kunstsammlung des Stuttgarter Automobilkonzerns – mit weitgehenden inhaltlichen Freiheiten: «Es wäre problematisch, gesellschaftskritische Aspekte der Kunstproduktion einfach auszulassen.» Sie sieht es als ihre Aufgabe, durch die Möglichkeit der Begegnung mit Kunst einen Perspektivenwechsel in der Auseinandersetzung mit kritischen Themen in der Gesellschaft anzustossen. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch nach innen: «Ich führe die Kolleginnen und Kollegen aus dem Konzern besonders gerne durch die Sammlung – das bringt mir unmittelbares Feedback.»
Grenzen? Nie würde sie pornografische, rassistische oder sexistische Themen aufgreifen.
Sie spüre dabei die Verantwortung, die in über vierzig Jahren aufgebaute Sammlung sorgfältig weiterzuentwickeln: «Neu erworbene Werke sollten an Bestehendem anknüpfen, aber gleichzeitig die Themenschrauben ein Stück weiterdrehen», sagt Vieth. Grenzen? Nie würde sie pornografische, rassistische oder sexistische Themen aufgreifen. «Aber primär gibt für mich das Werk den Ausschlag, nicht der Künstler.»
Brecht zum Trotz wird die Sammlung so doch zum Spiegel der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Wandel. Vom neuen Menschenbild in der von Technik und Fortschrittsglauben geprägten Moderne über die sozialen Herausforderungen der Globalisierung bis zu den Folgen des Klimawandels: Die Kunst kann auch Anstösse fürs unternehmerische Handeln geben. Gesellschaftlicher Wandel lässt sich gar in einzelnen Mercedes-Modellen ablesen. Aber wie unterscheidet Vieth bloss Modisches von jenen Werken, die künftig kunsthistorische Relevanz gewinnen werden? «Mir fehlt zwar eine Glaskugel, aber ich habe klare Kriterien, nach denen ich über Ankäufe entscheide.» Schon ihre Vorgängerin habe einen Fokus auf die Nachwuchsförderung gelegt. Vieth sind zudem Diversität und eine geweitete Perspektive wichtig – aus dem postkolonialen Blick von aussen auf Europa könnten auch wir einiges lernen.
So wie Video- und Installationskunst das klassische Kunstverständnis aufbrachen, eröffnen digitale Medien heute neue Möglichkeiten der inhaltlichen Auseinandersetzung – und das konsequent bis zum Schluss, sollten sie gesellschaftlich folgenlos bleiben. Wie bei einem der jüngsten Ankäufe Vieths, einem digitalen Non-Fungible Token (NFT) des Duos terra0: Schmilzt das Grönlandeis unter ein bestimmtes Mass, wird sich das Kunstwerk selbst zerstören. «Und wir sind verpflichtet, den zugehörigen Ausdruck des Werkes zu verbrennen», ergänzt Vieth.Liegt die Zukunft der Kunst in digitalen Werken, mit denen sich alle jederzeit und überall auseinandersetzen können? «Das Interesse an solcher Kunst ist gross. Aber Museen sind auch ein Ort der analogen Begegnung mit anderen. Ich bin mir sicher, dass die Rezeption von physischer Kunst immer ihre Bedeutung haben wird.»
Engagement für Kunst und Kultur seit 47 Jahren
Im Jahr 1977 gegründet, beinhaltet die Mercedes-Benz Art Collection heute rund 3000 Werke von über 800 internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Sie umfasst Malerei und Zeichnungen, Skulpturen, Objekt- und Lichtkunst sowie Fotografie und Video und konzentriert sich auf abstrakte Bildkonzepte, kritisch-engagierte und Auftragskunst. Die Werke werden nicht in einem festen Ausstellungsraum gezeigt, sondern an global unterschiedlichen Orten – und sollen so lokal den Austausch über den gesellschaftlichen Wandel anstossen.
Seit Juli 2023 leitet die Kunsthistorikerin Anne Vieth, 44, die Sammlung.