Druck in der Beziehung, innerhalb der Familie oder im Beruf kann bei vielen permanenten Stress hervorrufen. Aber kann die Reaktion auf hohe Anforderungen und Leistungsdruck auf andere abfärben? Dr. Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, verrät im Interview, ob Stress wirklich ansteckend sein kann und wie sich andere gegebenenfalls davor schützen können.
Warum zieht uns der Stress beziehungsweise die negative Stimmung anderer oft mit herunter?
Dr. Andreas Hagemann: Stress kann buchstäblich «ansteckend» wirken. Grund dafür ist unsere Empathiefähigkeit: Wir versetzen uns in die Lage anderer Menschen - und so wie wir mitfühlen und mitleiden können, so «mitstressen» wir gegebenenfalls auch mit dem Kolleg*innen. Je länger und intensiver wir jemanden kennen, desto stärker fühlen wir mit ihm und dessen Empfindungen mit.
Warum lassen wir uns von Stress oft so schnell «infizieren»?
Stressverstärkend wirkt hier das «Zusammengehörigkeits- oder Wir-Gefühl». Besonders im Familien- und Freundeskreis tritt dieses Phänomen vermehrt auf. Doch auch relativ fremde Menschen können Stress «übertragen»: Oftmals genügt es bereits, wenn wir andere Menschen beispielsweise in einer Fernsehserie in einer angespannten Situation erleben, um darauf mit einer vermehrten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol zu reagieren.
Wie schafft man es, zuzuhören, ohne selbst in ein Stimmungstief zu fallen?
Gerät man in hektische Situationen sollte man versuchen, etwas Abstand zu gewinnen. Hilfreich kann hierbei die Vogelperspektive sein, also das Ganze von oben zu begutachten. Ist die Situation wirklich so brenzlig? Bin ich selbst betroffen? Was kann schlimmstenfalls passieren? Antworten auf diese und ähnliche Fragen bringen mich meist wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und können die Situation entspannen.
Und wie können wir gestressten Personen am besten helfen?
Reden Sie ruhig mit der betreffenden Person. Zeigen Sie Verständnis - und hören Sie ruhig zu. Versuchen Sie sie abzulenken, auf andere Gedanken zu bringen. Vermeiden Sie dabei aber bitte Aufforderungen wie «Du solltest» oder «Du musst». Besser fragen, was den Stress auslöst und was die Situation erleichtern könnte. Auch Bewegung hilft - eventuell gehen Sie gemeinsam ein paar Schritte oder eine Treppe hoch und herunter. Atmen Sie dabei gemeinsam tief ein und aus.
Wie können wir Stress allgemein vorbeugen?
Regelmässiger Ausdauersport, eine gesunde, ausgewogene Ernährung und ein Verzicht auf Nikotin, Koffein und Alkohol helfen gegen Stress und dessen Folgen - ebenso wie ausreichender Schlaf und die Verminderung wiederkehrender Überforderungssituationen. Stressbewältigungstechniken und Entspannungsmethoden wie die Progressive Muskelrelaxation oder sogenannte imaginative Techniken und Yoga/Meditation bringen ebenfalls mehr Ruhe ins Leben.
Ebenso hilfreich ist es vielfach, Stress-Auslöser zu identifizieren: Überlegen Sie einmal, welche Situationen Sie besonders stressen und wie Sie diese künftig weitgehend umgehen können.
Welche Signale sendet uns der Körper, wenn wir zu gestresst sind?
Hinter Stress steckt ein tief in uns verankerter archaischer Mechanismus, hat die Forschung festgestellt. Dieser diente ursprünglich dazu, den Körper in lebensbedrohlichen Situationen zu wappnen und ihn in Sekundenschnelle auf Höchstleistungen für Flucht oder Kampf vorzubereiten. Dementsprechend werden auch heute noch in besonders herausfordernden Lebenslagen Stresshormone ausgeschüttet - in erster Linie Adrenalin und Cortisol. Die Muskulatur spannt sich an, Atmung und Puls beschleunigen sich, Blutzucker und Blutdruck steigen. Die unmittelbare, maximal aktivierende Wirkung des Adrenalins ist jedoch auf einige wenige Minuten beschränkt.
Bei dauerhaftem Stress tritt die langfristige Wirkung des Cortisols in den Vordergrund - mit entsprechenden Nebenwirkungen. Es leidet nicht nur unsere Psyche, sondern auch unser Körper erheblich: Das Immunsystem wird geschwächt, die Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit sowie die Libido werden reduziert. Es drohen Beschwerden wie etwa Magenschmerzen und Durchfall bis hin zu Diabetes und schweren Herz-/Kreislauferkrankungen. Selbst depressive Erkrankungen sind eine mögliche Folge der biochemischen Veränderungen des Gehirns.
Dr. Andreas Hagemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Ärztlicher Direktor der auf Burnout-Störungen und Depressionserkrankungen spezialisierten Röher Parkklinik in Eschweiler bei Aachen sowie der Privatklinik Merbeck im nordrhein-westfälischen Wegberg in Deutschland. Schwerpunkt dieser erst kürzlich eröffneten Einrichtung ist die multimodale psychosomatische Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen und Schmerzstörungen.