Habt ihr euch auch schon gefragt, warum euch gewisse Menschen nicht grüssen, wenn ihr ihnen begegnet? Dahinter kann nicht nur pure Arroganz, sondern ein unheilbares Syndrom stecken: Prosopagnosie. Auch Brad Pitt soll das Syndrom angeblich haben. In einem in der GQ veröffentlichten Interview hat der Hollywood-Star sich darüber geäussert, dass er seit seiner Kindheit keine Gesichter erkennen kann – Ironie des Schicksals: Sein Gesicht hat in weltberühmt gemacht. Auch Victoria von Schweden ist bekennende Prosopagnostikerin. Alles nur eine faule Ausrede, um niemanden grüssen zu müssen? Mitnichten. Prof. Dr. Meike Ramon, kognitive Neurowissenschaftlerin und führende Forscherin im Bereich der Gesichtserkennung an der Universität Lausanne, hat uns verraten, warum Betroffene keine Gesichter erkennen können.
Was versteht man unter einer Prosopagnosie?
Meike Ramon: Das Wort Prosopagnosie setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: dem griechischen Wort für Gesicht und dem medizinischen Begriff «Agnosie». Darunter versteht man, die Unfähigkeit, Sinneseindrücke zu erkennen. Im Volksmund wird häufig der etwas irreführende Begriff «Gesichtsblindheit» verwendet.
Warum können manche Menschen keine Gesichter erkennen?
Wenn wir einer Person begegnen, erkennt unser Gehirn in weniger als einer halben Sekunde, ob wir sie kennen und (wenn ja), wer sie ist. Der Grund: Wir fügen ganz schnell und unbewusst alle Informationen zusammen und sehen das Gesicht als Ganzes. Bei Prosopagnostiker*innen funktioniert dieses schnelle Zusammenfügen nicht. Ihr Eindruck von einem Gesicht ist eher eine Sammlung von Einzelteilen, die sie eins nach dem anderen verarbeiten. Grundsätzlich können Betroffene andere Menschen schon anhand ihres Gesichts erkennen. Es ist für sie allerdings sehr zeitaufwendig, mühsam und extrem fehleranfällig.
Was sehen denn die Betroffenen anstelle des Gesichts?
Da muss ich etwas klarstellen: Es ist nicht so, dass Prosopagnostiker*innen keine Gesichter sehen. Sie wissen sehr wohl, wenn ihnen ein Gesicht präsentiert wird – sei es bei echten Gesichtern im Alltag, den berühmten Gemälden von Archimboldo oder sogenannten «Mooney Faces». Sie nehmen also Gesichter als solche wahr – können aber deren Einzelteile eben nicht automatisch und schnell zu einem Ganzen zusammenfügen.
Wie wird eine Prosopagnosie ausgelöst?
Strenggenommen ist die Prosopagnosie ein Syndrom, das entweder durch eine Hirnschädigung erworben wird und ohne andere Defizite auftritt. Hirnschädigungen betreffen aber meist verschiedene Bereiche im Gehirn, die diverse Defizite auslösen. Daher gibt es nur sehr wenige Menschen mit (r)einer Prosopagnosie.
Können Betroffene zusätzlich zu Gesichtern auch andere Dinge nicht erkennen?
Es gibt etliche Untersuchungen zur sogenannten «angeborenen Prosopagnosie», also Personen, die ohne Hirnschäden starke Einschränkungen in Bezug auf Gesichtserkennung zeigen. Neuere Studien legen jedoch nahe, dass diese Personen visuelle Objekte im Allgemeinen – also auch andere Dinge als Gesichter – schlechter verarbeiten.
Was können betroffene Personen dagegen unternehmen?
Personen, die Gesichter schlecht erkennen können, erarbeiten sich meist selbst Strategien, die ihnen dabei helfen. Sie merken sich zum Beispiel Dinge wie «Meike hat braune Augen, ein Muttermal auf der linken Wange und eins mittig über der Oberlippe». Das hilft Ihnen vor allem in Situationen, in denen sie eine bestimmte Person erwarten. Hätte ich eine Verabredung mit einer Betroffenen, könnte sie mich an meiner Grösse, Haarfarbe, Gangbild und den eben beschriebenen Gesichtsmerkmalen erkennen. Trifft mich die Person aber unverhofft in einer anderen Stadt, wird es schon etwas schwieriger, und wahrscheinlich wird sie mich nicht erkennen, da sie nicht nach meinen Merkmalen sucht.
Stimmt es, dass Betroffene das Erkennen von Gesichtsmerkmalen trainieren können?
Das können sie - und tun sie meist schon spontan. Leider bleibt das aber nach wie vor zeitaufwendig, mühsam und fehleranfällig.
Worunter leiden Betroffene im Alltag besonders?
Sicher lässt sich das nicht pauschal beantworten, aber ich denke, dass Unsicherheiten eine grosse Rolle spielt – auch seitens Nicht-Betroffener. Personen, die von Betroffenen nicht im Bus erkannt werden, fragen sich vielleicht, warum sie nicht gegrüsst wurden. Prosopagnostiker*innen wiederum befürchten eventuell, dass andere denken könnten, dass sie arrogant oder desinteressiert seien.
Während der Pandemie haben mein Partner und ich Einkäufe für eine ältere Nachbarin erledigt, der ich schon öfters in der Waschküche und im Flur begegnet war. Als sie ihre Einkäufe wieder selbst erledigen konnte, klingelte sie an unserer Tür und bedankte sich ganz herzlich mit einem Blumenstrauss. Wenn ich sie allerdings auf der Strasse in unserem Quartier gesehen habe, hat sie mich nie gegrüsst. Vor einigen Wochen sprachen wir im Garten miteinander und ich merkte, dass sie mich wieder nicht erkannt hatte. Als ich ihr sagte, dass ich Meike aus dem ersten Stock sei, antwortete sie: «Ach, wissen Sie, das, was Sie studieren, das habe ich!» Ich glaube, sie hatte einen Beitrag in einer Zeitschrift gelesen, in dem ich auch über Prosopagnosie sprach.
Anscheinend wissen Betroffene oft lange nichts von ihrem Problem. Wie ist das möglich?
Sachen, die uns zeitlebens begleiten, nehmen wir typischerweise als normal hin. Festzustellen, dass nach einer Hirnschädigung etwas anders ist, ist natürlich schon deutlich leichter. Der Begriff Prosopagnosie kursiert erst seit einigen Jahren in den nicht-wissenschaftlichen Medien. Die zunehmenden Berichterstattungen zu Themen um Neurodiversität informieren Menschen über seltene Phänomene, die sie sonst nicht erwarten würden. Dank des Internets verbreiten sich Informationen schneller und Betroffene jeglicher Art können sich weltweit finden und austauschen. Beides sind ideale Voraussetzungen dafür, offen mit den eigenen Erfahrungen und auch Einschränkungen umzugehen – wie meine Nachbarin.