Sie ritzen oder schneiden sich mit Messern, Rasierklingen oder Scherben. An Armen und Beinen oder im Bereich von Brust und Bauch. Andere verbrennen sich absichtlich mit Zigaretten oder heissem Wasser oder schlagen mit Fäusten gegen eine Wand. Wie kommt es zu diesem auffälligen Verhalten? «Selbstverletzungen dienen in vielen Fällen der Spannungsabfuhr, dem Umgang mit belastenden Emotionen oder einem Bedürfnis nach Selbstbestrafung in
Konfliktsituationen.
Etwas vereinfacht gesagt, wird ein seelischer Schmerz auf die Ebene des Körpers verlagert, wodurch er besser kontrollierbar wird und die Betroffenen eine psychische Erleichterung verspüren»,
erklärt Dr. med. René Bridler, Ärztlicher Direktor des Sanatoriums Kilchberg ZH.
«Weil der seelische Schmerz abnimmt, haben selbstverletzende Handlungen die Tendenz, sich als überdauerndes Verhaltensmuster zu stabilisieren.»
Es beginnt oft in der Jugend und Adoleszenz
Selbstverletzendes Verhalten zur Spannungsreduktion tritt sehr häufig in der ersten Lebenshälfte auf. Dr. Bridler: «Seine derzeitige Verbreitung hat wohl auch mit den sozialen Medien zu tun, was möglicherweise mit einer Reduktion von Scham einhergeht, aber auch dazu führen kann, seelische Nöte junger Menschen zu bagatellisieren. Aus der sehr umfangreichen wissenschaftlichen Literatur wissen wir, dass Selbstverletzungen als Verhaltensmuster gehäuft auftreten bei Menschen mit pathologischen Beziehungserfahrungen oder gar Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend.
Im Laufe der Adoleszenz stehen wichtige schulische, berufliche und zwischenmenschliche Entwicklungsschritte an, bei denen die Betroffenen zu wenig auf belastbare innere Bindungssicherheiten und Möglichkeiten der Selbststeuerung zurückgreifen können. Sie leiden nicht nur unter heftigen Gefühlsausschlägen, sondern haben insbesondere Mühe, negative Emotionen wieder herunterzuregulieren. In solchen Situationen können sie die Selbstverletzung als quasitherapeutische Methode für sich entdecken.»
«Handelt es sich bei den selbstschädigenden Handlungen um Suizidversuche, findet sich bei den Betroffenen in vielen Fällen eine psychiatrische Erkrankung, weitaus am häufigsten eine schwere Depression, auch im Rahmen einer manisch-depressiven Krankheit», erklärt der Ärztliche Direktor des Sanatoriums Kilchberg. Allerdings gehen fast alle psychischen Erkrankungen mit einer erhöhten Suizidgefährdung einher. Verstärkend wirken impulsive Persönlichkeitszüge und der Konsum von Alkohol oder Drogen.
«Menschen mit einer psychotischen Erkrankung sind ebenfalls suizidgefährdet»,
so Dr. René Bridler. «Zudem fügen sie sich auf dem Boden wahnhaften Erlebens mitunter lebensgefährliche Verletzungen zu.»
Wie begegnet man Menschen, die sich selber verletzen?
Falsch ist es zu schweigen. Richtig ist ansprechen, weil das meistens als entlastend empfunden wird. Voraussetzung ist, dass dies nicht wertend und schon gar nicht abwertend geschieht. Nur wenn sich Betroffene verstanden fühlen, sind sie bereit, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vorurteilsfreies, aufrichtiges Interesse ist auch Grundvoraussetzung für jede Therapie. Dr. René Bridler: «Wir sind offen für die Geschichte eines Menschen und möchten sein Erleben durch seine Augen sehen. Wir hören zu und lernen immer Neues, mit Respekt dafür, dass ein Mensch sich uns anvertraut.»
Die derzeit wohl wirksamste antisuizidale Psychotherapie nach einem Selbstmordversuch heisst ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program) und wurde in Bern entwickelt. Im Kanton Zürich bieten im Rahmen eines kantonalen Suizidpräventionsprogramms alle psychiatrischen Kliniken die Kurztherapie ASSIP oder eine vergleichbare Behandlung an. Im Sanatorium Kilchberg ZH wurde das Programm 2018 eingeführt. Seither wurden einige Dutzend Personen damit behandelt.