Es gibt so einige Themen, die von der Gesellschaft am liebsten tabuisiert werden. Meistens sind das Dinge, bei denen man sich nicht getraut, die eigenen Erfahrungen mit denen von anderen zu vergleichen. Aus welchem Grund auch immer. Da wäre beispielsweise der weibliche Orgasmus. Während Frauen und Männer nämlich gefühlt jeden Tag über männliche Masturbationsgewohnheiten sprechen, geht die weibliche Lust im Gespräch oft unter. Besonders, wenn es sich um einen Orgasmus handelt, der nicht im sexuellen Rahmen entstanden ist, sondern beim Sport. Diesen sogenannte «Coregasm» haben wahrscheinlich schon viele Frauen erlebt, doch nur die wenigsten sprechen darüber. Wie entsteht so ein Orgasmus überhaupt? Und kann man nach dem spontanen Höhenflug ganz einfach weiter trainieren? Wir haben bei der diplomierten Sexualtherapeutin und klinischen Sexologin Judith Fahrni nachgefragt.
Warum ist der Coregasm so ein Tabuthema?
Judith Fahrni: Es kann durchaus sein, dass sich Frauen beispielsweise in einem Fitnesscenter schämen, wenn sie während des Sports einen Orgasmus bekommen. Auf der anderen Seite könnten sich andere Frauen unter Druck gesetzt fühlen, wenn sie keinen Orgasmus bekommen können. Zudem ist der Coregasm als Phänomen noch nicht sehr erforscht und auch in der Fachwelt wenig bekannt. Man weiss aber, dass Sportarten, die den Beckenboden aktivieren, wie beispielsweise Yoga, Pilates oder Beckenbodenübungen, durchaus eine positive Wirkung auf Menschen mit sexuellen Schwierigkeiten haben können.
Wie kann es dann zu einem Coregasm kommen, was passiert da?
Viele Frauen – und auch Männer – steigern ihre Erregung beim Sex durch starke körperliche Anspannung, bis sich diese Energie dann im Orgasmus entlädt. Genau dieser Spannungsaufbau findet auch beim Bauch- und Beckenbodentraining statt: Die angespannten Muskeln und die Bewegungen stimulieren hauptsächlich über Druck die Geschlechtsteile. Das führt zu einer Erregung, die durch die körperliche Betätigung noch weiter gesteigert wird. Die Sexualorgane schwellen an, was wir auch durch ein Wärmegefühl sowie ein Pulsieren im Genitalbereich wahrnehmen. Wenn sich die Erregung genügend hoch aufbaut, kann das zu einer Entladung führen – dem Coregasm.
Ebenso wichtig ist übrigens auch das Entspannen: Der Coregasm entsteht durch Loslassen nach intensivster Anspannung.
Wie kann man einen Coregasm fördern?
Indem man die entsprechenden Muskeln gezielt trainiert, vor allem im Beckenboden. Im Internet findet man inzwischen eine ganze Reihe von Anleitungen. Aber: Diese gezielten Übungen sind nicht für alle mit Orgasmusschwierigkeiten sinnvoll. Bei Frauen, die einen geringen Tonus im Beckenboden haben und daher Mühe bekunden, Erregung aufzubauen, kann es sinnvoll sein, den Beckenboden gezielt mit solchen Übungen zu stärken.
Hat ein Coregasm auch etwas Sexuelles?
Nicht unbedingt. Eine starke Erregung mit anschliessender Entladung kann man durchaus im nicht-sexuellen Kontext erleben. Wir kennen das zum Beispiel, wenn wir eine riskante Situation erleben wie etwa beim Bungee-Jumpen. Man kann also beim Training einen Orgasmus erleben, ohne dass man deswegen sexuell erregt ist.
Es kommt auch darauf an, was Mann oder Frau unter «sexuell» versteht: Wenn jemand sich selber während der Übung als sinnlich-erotisch empfindet und dies vielleicht sogar geniessen kann, eventuell auch sexuelle Fantasien hat, kann sich das durchaus erotisch anfühlen.
Im sportlichen Kontext sind dem erotischen Geniessen aber eher Grenzen gesetzt. Da die Bewegungen in den Übungseinheiten, die zum Coregasm führen, nicht sehr fliessend sind, geschieht die Entladung eher genital und kann sich weniger ganzkörperlich verteilen. Im Solo- oder Paarsex kann mehr Intensität durch fluide ganzkörperliche Bewegungen, Atmung und Stimme dazukommen. Und auch der Kontakt mit dem Partner beziehungsweise der Partnerin kann die Aufladung intensivieren. Neben der genitalen Entladung kann also auch eine emotionale Entladung ausgelöst werden.
Verbessert der Coregasm unser eigenes Körpergefühl?
Der Coregasm ist eine wunderbare Möglichkeit, zum Orgasmus zu kommen, die Frau durchaus geniessen darf. Sport fördert ein gutes Körpergefühl sowie die Fitness; beides wirkt sich positiv auf die Sexualität aus. Die Übungen, die zum Coregasm führen, sind vor allem bei Frauen empfehlenswert, die tendenziell einen schwachen Beckenboden-Tonus haben. Die Übungen führen jedoch nicht bei jedem Menschen zum Orgasmus – also kein Stress!
Inwiefern kann/sollte man nach einem Coregasm weiter trainieren?
Ich sehe keinen Grund, weshalb man das nicht sollte. Aber ich empfehle, sich danach auch Genuss und Entspannung zu gönnen! Ich stehe dem Coregasm etwas kritisch gegenüber. Denn: Leistungsoptimierung entspricht unserem Zeitgeist – auch in der Sexualität. Dies führt bei vielen Menschen (bei Frauen und Männern) oft zu Lustlosigkeit und anderen sexuellen Störungen. Ich appelliere daher auch an das genüssliche Kennenlernen des eigenen Körpers und der eigenen Bedürfnisse – für mehr Genuss und weniger «Arbeit».