Gleich geht es los. Sitzt alles? Noch einmal zupft sie ihr buntes Haarband zurecht. Es ist heiss, unter ihrem Mundschutz, der farblich zum Haarband passt, schwitzt sie. Doch bald kann sie diesen ablegen. In fünf Minuten wird sie auf die Bühne treten, mit ihrem selbstgeschriebenen Lied gegen Rassismus kämpfen. Shedea mustert ihr Outfit. Schwarzer Overall, schwarze Boots, schwarzer Rucksack, schwarz geschminkte Augenlider. Schwarz. Ein Wort, das Shedea in ihrem Leben immer wieder hören muss. Nicht wegen ihrer Kleider, oder ihrem Make-up, sondern aufgrund ihrer Hautfarbe. Doch heute spielt die Farbwahl von Outfit und Schminke ausnahmsweise eine Rolle. Das Schwarz soll aufmerksam machen, auffallen und gemeinsam mit den tausenden von Demonstrant*Innen, die erwartungsvoll auf dem Zürcher Sechseläutenplatz stehen, ein Statement setzen.
Nachdenklicher Demonstrationszug
Bereits um 14.00 Uhr ist der Bahnhof Stadelhofen voll mit schwarz gekleideten Demonstrant*Innen. Die meisten von ihnen mit Kartonschildern und corona-gerechten Hygienemasken ausgerüstet. Sie lachen, singen und sprechen in den unterschiedlichsten Sprachen. Eine Versammlung sämtlicher Nationalitäten. Es bildet sich ein Demonstrationszug. Er bewegt sich zum Bellevue, verläuft über die Brücke in Richtung Bahnhof Enge. Immer wieder rufen Leute «Black Lives Matter» oder «No Justice, No Peace» – zu deutsch: keine Gerechtigkeit, kein Frieden.
Beim Bahnhof Enge knien die Demonstrant*Innen nieder. Für acht Minuten und 46 Sekunden. So lange, wie dem US-Amerikaner George Floyd das Knie eines Polizisten in den Nacken gepresst wurde. Am 25. Mai 2020 kam Floyd so in Minneapolis (USA) auf offener Strasse ums Leben. Um ihm zu gedenken, sind die knienden Demonstrant*Innen in Zürich still. Sie schweigen. Weil sie ihr Mitgefühl ausdrücken wollen, weil sie das Video von George Floyd vor ihren Augen sehen, oder weil sie selbst schon Opfer von Rassismus waren.
Veraltete Spiele bieten Rassismus eine Plattform
Währenddessen bereitet Luizella José, eine der Initiantinnen der Demonstration, die Bühne auf dem Sechseläutenplatz vor. In der Smartphone-Kamera checkt sie ihr Make-up. Zufrieden wendet sie sich ab und blickt in die Ferne. Sie ist froh, dass so viele Demonstrant*Innen gekommen sind. «Auch in der Schweiz ist Rassismus ein grosses Problem. Immer wieder höre ich Beleidigungen.»
Diese Aussagen bestätigen die neuesten Zahlen zum Rassismus in der Schweiz. Laut des Bundesamts für Statistik erklärten 2018 rund 17 Prozent der Schweizer Bevölkerung zwischen 15 und 88 Jahren, dass sie bereits rassistische Diskriminierung erfahren haben. Gründe dafür sind für Luizella mangelnde Bildung und veraltete Bücher und Spiele. «Wie soll Rassismus verschwinden, wenn unsere Gesellschaft noch immer 'Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?' mit kleinen Kindern spielt?»
Luizella ist aber vor allem eines wichtig: Zusammenhalt. Sie will, dass Nicht-Betroffene den Betroffenen helfen. In der Schweiz gibt es 22 Beratungsstellen, bei denen Opfer von Rassismus Unterstützung finden. Laut der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) wurden 2019 rund 352 Fälle von Diskriminierung gemeldet. 27 Prozent mehr als im Vorjahr, exklusive Dunkelziffer. Laut Luizella müssen Nicht-Betroffene deshalb geschult werden. «Rassismus muss erkannt werden, bevor er sich verbreitet und man dagegen einschreiten muss.» Während sie redet kommt ein älterer, weisser Herr zu ihr: «Ich habe euch gefilmt. Selber schuld, wenn ihr immer so aggressiv seid.» Luizella und ihre Freundinnen, die in Ruhe neben den Gittern vor dem Opernhaus sitzen, ignorieren ihn. Solche Bemerkungen sind nichts Ungewohntes. Der Mann läuft weg. Der Demonstrationszug kommt zurück auf den Sechseläutenplatz.
Plötzlich spielt die weisse Hautfarbe eine Rolle
Die Demonstrant*Innen strömen zur mittlerweile einsatzbereiten Bühne. Es schellt Musik aus den Lautsprechern. Um Punkt 16.00 Uhr tritt ein Mann vor das Mikrofon. Aufgeregt hält er einen Zettel in der Hand und beginnt mit seiner Rede. Er schildert, wie er Rassismus aufgrund seiner Hautfarbe begegnet ist. Schliesslich fällt um 16.11 Uhr der Name George Floyd. Die Zuhörer*Innen toben, strecken kämpferisch ihre Fäuste in die Luft. Um 16.12 Uhr fällt der Name Donald Trump. Buh-Rufe. Um 16.15 Uhr wieder tosender Applaus, die Rede findet mit den Worten «Stoppt Rassismus, Black Lives Matter» ein Ende.
Es folgt ein Schweigen in Gedenken an alle Opfer von Rassismus – das von Ausschreitungen beim Bahnhof Stadelhofen unterbrochen wird. Linksautonome haben Polizisten mit Gegenständen beworfen. «Alle Weissen sollen einen Kreis um die Schwarzen bilden, schützt euch gegenseitig», dröhnt es aus den Lautsprechern der Bühne. Die Weissen werden angestarrt. Komisch. Ungewohnt. Passend. Für kurze Zeit spielt die Hautfarbe plötzlich wieder eine Rolle. Doch dann die Erleichterung: Die Situation beim Bahnhof ist unter Kontrolle. Die Demo geht weiter.
«Bitte gebt niemals auf»
Shedea kann es mittlerweile kaum mehr erwarten, zu singen. Ihre Maske hat sie ausgezogen. «Das Publikum sieht so toll aus», sagt sie. «Ich fühle mich zum ersten Mal in der Schweiz wirklich verstanden.» Sie tritt hinter das Mikrofon, ihre Kollegin spielt die ersten Akkorde auf der Gitarre. Schnell zücken einige Demonstrant*Innen ihr Handy und filmen sie. Sie hat eine ruhige Stimme – ihr Auftritt wirkt versöhnlich. «You Got Me», zu deutsch: du verstehst mich, singt sie und die Menge stimmt mit ein. Nach drei Minuten ist ihr Auftritt vorbei. «Bitte gebt niemals auf» sagt sie und verschwindet hinter die Bühne. Nach dem Auftritt ist für Shedea klar: Es ist noch nicht vorbei. Black Lives Matter nämlich nicht nur heute, sondern immer. Der Kampf gegen Rassismus hat für sie und alle anderen auf dem Sechseläutenplatz gerade erst begonnen.