Während sich die einen vollends auf die Vorweihnachtszeit freuen, löst sie in anderen überwiegend Stress hervor. Geschenke kaufen, Glühwein mit allen Freund*innen trinken und die letzten wichtigen To-dos zum Jahresende abarbeiten – da bleibt oft nur wenig Zeit für Ruhe und Me-time. Dabei ist es enorm wichtig, «die Work-Life-Balance zu behalten», betont Dr. Andreas Hagemann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Im Interview verrät der Experte, wie wir stressfrei durch die Adventszeit kommen.
Neben dem alljährlichen Weihnachtsstress belasten uns dieses Jahr auch Themen wie Krieg, Energiekrise und Inflation. Damit einhergehende Geldsorgen und Zukunftsängste. Wie schaffen wir es dennoch die Weihnachtszeit zu geniessen?
Dr. Andreas Hagemann: Trotz aller Hektik, trotz aller Erwartungen, die an die Weihnachtszeit geknüpft sind, und auch allen Krisen in dieser Welt zum Trotz gibt es auch Positives im Leben. Wenn der Fokus aber auf den Negativmeldungen ruht, fällt es oft schwer, den Blick abzuwenden und die glücklichen Momente zu erkennen.
Wer den Eindruck hat, dass es in ihrem oder seinem Leben keine positiven Dinge mehr gibt, der oder dem empfehle ich ein Glückstagebuch zu führen: Bitte jeden Abend, vielleicht auch mit einer vertrauten Person zusammen, die glücklichen Momente Revue passieren lassen und aufschreiben. Denn kleine Glücksmomente gibt es jeden Tag in erstaunlicher Menge. Trainiere ich mich, sie zu bemerken, werde ich immer wieder Momente von Glück erleben.
Empfehlenswert ist es zudem, sich kleine Highlights zu sichern, wie etwa Spieleabende mit Familie oder Freund*innen oder ein leckeres Lieblingsessen am Wochenende. Zahlreiche traditionelle Freizeitaktivitäten in der Adventszeit, wie etwa Weihnachtsfeiern oder Weihnachtsmarkt-Besuche, lassen uns ebenfalls auf andere Gedanken kommen und sind gerade in anhaltenden Krisenzeiten wichtiger denn je. Aber auch dabei ist weniger oft mehr: Wir müssen nicht aus jedem Advents-Wochenenden «das Maximale» herauszuholen, sondern sollten Akzente durch einige ausgewählte Termine setzen. Das müssen nicht immer Highlights sein, aber es sollten Momente sein, die unbeschwert Vergnügen bereiten. Dadurch erhöhen wir den Spass – und reduzieren gleichzeitig den Stress-Faktor. Denn wer ständig verplant und rundum ausgebucht ist, der fördert eher Erschöpfung als Entspannung und wird auch Weihnachten kaum die Ruhe selbst sein.
Wie vermeiden wir Stress in Sachen Weihnachtsgeschenke? Schliesslich haben dieses Jahr viele Geldsorgen ...
In der Tat sehen dieses Jahr viele Menschen dem Weihnachtsfest besorgt entgegen. Aufgrund von Inflation und explodierender Energiekosten sind oftmals keine bzw. nur günstige Weihnachtsgeschenke möglich, wie Umfragen zeigen. Dabei gilt nicht nur dieses Weihnachtsfest: Statt einer Menge an Präsenten ist ein einziges, mit Liebe ausgesuchtes Geschenk oftmals die bessere Wahl. Zudem sind auch selbstgemachte Präsente ein besonderes Zeichen der Aufmerksamkeit und Zuwendung. Es zeigt: «Ich denke an Dich und mache mir Gedanken, wie ich Dir eine ganz spezielle Freude bereiten kann.»
Und noch ein praktischer Tipp: Für die Weihnachtseinkäufe besser nicht gerade die besonders hektischen Samstage oder Sonntage im Dezember auswählen, wenn es geht. Das schont die Nerven.
Auch die Arbeit wird zum Jahresende bei vielen noch einmal so richtig stressig. Wie können wir das umgehen?
Zum Jahresende ist in der Tat häufig noch einiges zu erledigen. Bestimmte Dinge müssen definitiv abgeschlossen werden. Kommt zum Stress im Job dann noch der Vorweihnachtstrubel hinzu, so ist das Fass kurz vor dem Überlaufen. Aber müssen wirklich all die Dinge noch abgehakt werden, die auf der To-do-Liste stehen? Was ist wirklich wichtig? Und kann ich manches nicht aufs neue Jahr verschieben oder eventuell auch – bei richtiger Planung – bereits zuvor erledigen? Das entzerrt das erdrückende Paket an Pflichten. Und sind die Aufgaben dennoch nicht alleine zu bewältigen, kann dann nicht eventuell auch eine Kollegin oder ein Kollege unterstützend einspringen?
Ganz wichtig für Gesundheit und insbesondere auch die Leistungsfähigkeit ist es, die Work-Life-Balance zu behalten – die Balance zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen stressigen Zeiten und Ruhephasen. Also bitte gerade auch an anstrengenden Vorweihnachtstagen versuchen, einen Ausgleich zum täglichen Job zu finden. Beglückend und Frustrationsabbauend können sich Sport oder soziale Kontakte in der Freizeit auswirken. Ausreichender Schlaf, der mässige Genuss von Alkohol, Nikotin und Kaffee sind ebenfalls hilfreich.
Lassen es der berufliche Terminplan und die Finanzen zu, so ist ein Kurzurlaub im Advent die ideale Vorbereitung für den Start in entspannte, besinnliche Feiertage. Dies reduziert auch die Gefahr von Familien-Konflikten. Denn je gestresster wir Heiligabend feiern, desto dünnhäutiger und gereizter sind wir. Oft genügen dann bekanntlich schon Kleinigkeiten – und unterm Tannenbaum herrscht der grösste Weihnachtskrach.
Vielen fällt es schwer, in dieser stressigen Zeit an sich zu denken ...
Wunder wirken können in der hektischen Vorweihnachtszeit kleine Auszeiten zwischendurch: Gut ist es, öfter buchstäblich innezuhalten und beispielsweise beim Guetzlibacken oder adventlichen Spaziergang durch den Wald Energie zu tanken. Bereits eine Viertelstunde täglich «abgezwackt» für die eigenen Bedürfnisse, hilft zu entspannen und dem Weihnachtsstress mental entgegenzusteuern. Noch besser ist es allerdings, sich an einem Tag der Woche mehrere Stunden für das persönliche Wohlbefinden zu gönnen und die eigenen Erwartungen an die «besinnliche Zeit» zu hinterfragen.
Stressbewältigungstechniken und Entspannungsmethoden können uns generell dabei helfen, mehr Ruhe ins Leben zu bringen und etwas gelassener auf Stress und Konflikte zu reagieren. Der 4-7-8-Atmung wird eine besonders entspannende Wirkung zugesprochen: Hierfür legen wir unsere Zungenspitze hinter die oberen Schneidezähne und atmen dann durch die Nase ein. Jetzt zählen wir bis vier, halten unseren Atem kurz an und zählen dabei weiter bis sieben. Anschliessend atmen wir durch den Mund aus und zählen dabei eine lange Acht. Die Nasenatmung unterstützt eine tiefe Atmung. Das längere Ausatmen fördert die Entspannung. Das Ganze sollten wir dreimal wiederholen. Diese Atmung wird unter anderem erfolgreich zur Stressreduktion und zur Linderung von Ängsten eingesetzt.
Dr. Andreas Hagemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er leitet als Ärztlicher Direktor die u.a. auf psychosomatische Schmerztherapien sowie Burnout und Stresserkrankungen spezialisierten Privatkliniken Duisburg, Eschweiler und Merbeck in Nordrhein-Westfalen.