Da lehnt man die Brunch-Einladung der Nachbarin ab. Vergisst den Geburtstag vom Götti. Oder verschweigt der besten Freundin, dass man deren Verlobten einen Tag vor der Hochzeitszeremonie angeschnauzt hat, es sei verrückt zu heiraten – so wie Miranda (Cynthia Nixon) im Film «Sex and the City». Was anschliessend folgt? Kalte Füsse, keine Hochzeit und ein schlechtes Gewissen. Auch bei Mr. Big (Chris Noth). Aber warum schimpft die innere Stimme und bestraft mit Schuldgefühlen?
Vereinfacht ausgedrückt fällt der Kopf das Urteil, etwas falsch gemacht zu haben, erklärt Psychotherapeutin Nadia Kohler. Diese Einschätzung wird aufgrund vergleichbarer Erfahrungen gemacht, die mit moralischer oder sozialer Bestrafung in Verbindung stehen.
«Geschriebene und ungeschriebene Regeln bestimmen, wie wir uns miteinander und gegeneinander verhalten. Im Laufe unseres Lebens verinnerlichen wir diese Regeln in einem bestimmten Ineinander von Beziehungserfahrungen.», sagt Kohler. Diese Verinnerlichung ist ein komplexer Prozess. Introjektion nennt sich der Fachbegriff.
Selbe Situation, unterschiedliche Schuldgefühle
Verschiedene Menschen, verschiedene Erfahrungen, verschiedene Bedürfnisse. Kohler erläutert: «Menschen empfinden in gleichen Situationen ungleich Schuldgefühle, weil sie in sozialen Kontexten mit individuellen Vorstellungen von Schuld Beziehungserfahrungen gemacht haben.» Jemand, der als Kind beispielsweise wiederholt mit Schuldzuweisungen konfrontiert wurde, lebt wahrscheinlich mit der Überzeugung ständig Fehler zu begehen.
Irrationale Schuldgefühle
«Sich Schuld einzugestehen, ist vergleichbar mit einem Trauerprozess, an dessen Ende Reue empfunden wird», sagt Nadia Kohler. Im Grunde genommen sind Schuldgefühle eine gesunde Reaktion. Man reflektiert eine Situation und gesteht sich die eigenen Handlungen ein. Problematisch sind sie erst dann, wenn nicht mehr zwischen irrationalen und wirklichen, rational begründeten Schuldgefühlen unterschieden werden kann.
Quält sich eine Person also beispielsweise bereits bei Kleinigkeiten mit Vorwürfen, leidet sie an ihrer verzerrten Wahrnehmung. Ebenso verzerrt kann die Wahrnehmung ins andere Extrem gehen – jemand weist immer jegliche Schuld von sich ab. Um das zu ändern, ist die Frage nach dem Ursprung unerlässlich. Die Begleitung durch eine*n Psychotherapeut*in kann helfen, vergangene Dynamiken zu verstehen und aufzuarbeiten.