Wenn der im Untergrund ravende Bruder ein Superspreader ist. Die beste Freundin mit der Uroma im Arm die Durchseuchung der Gesellschaft predigt. Die Mutter zum ersten Mal im Leben demonstrieren geht. Nicht für Frauenrechte. Oder anlässlich des Klimastreiks. Nein: gegen Corona. Dann hat so mancher ein Problem. Weil Überzeugungen aneinanderkrachen – und die Beziehungen trocken zu Boden bröseln.
Wer hat Recht? Wer ist belehrend? Wer ist zu nachlässig, wer zu vorsichtig? Zu vorsichtig – gibt es das? Es gibt viel zu besprechen, jede Menge zu diskutieren und brutal viel zu streiten.
Der Konflikt der Dünnhäuter
Diese Lethargie, die sich in Herzen und Gesichter frisst, macht den Umgang miteinander nicht besser und einfacher. Eine triste Home-Office-Woche gleicht der andern, zugepflastert mit Samstagen und Sonntagen voller Spaziergänge und Coffees To Go. Ohne die wenigen Personen mit Umarmung zu begrüssen. Ja, irgendwie hat man früher alles besser unter einen Hut bekommen, als es noch die Option gab, die ganze Gruppe zusammenzutrommeln. Essen und was trinken gehen dürfen immer nur vier – wen lässt man zu Hause? Die, die letztens mit 16 anderen in einer Einzimmerwohnung Fondue gegessen hat? Oder den, der nie zurückschreibt, obwohl er ja jetzt eigentlich so viel Zeit haben müsste?
Das ständige Grau, die Sorge vor der Ansteckung, die Isolation und das Gefangensein im Land: Der Weltschmerz kickt rein und die Nerven sind so dünn wie die billigen Papiertaschentücher, mit denen man hektisch seine Tränen trocknet. Ein falsches Wort – und ein vernünftiges Gespräch eskaliert. Was normalerweise schnell vergessen ist, wird zur Grundsatzdiskussion. Sätze wie «Wir haben uns auseinandergelebt», «In solchen Situationen zeigt sich das wahre Ich» und «Es ist erschreckend, wie er/sie denkt» fallen plötzlich. Ja, passt man denn überhaupt noch zueinander?
Das Dilemma der Perspektiven
Die einen rücken näher zusammen, andere entfernen sich. Bleibende Schäden können entstehen. So sind es ja nicht nur die Sensiblen, die platonische Bauchschmerzen haben. Die Person, die leichtsinniger handelt, mag sich zurückgesetzt fühlen, weil sich andere mit ihrem Übermut und dem Brechen der Sicherheitsregeln nicht wohlfühlen.
Über das Virus zu diskutieren ist etwa vergleichbar mit einem Gespräch über Glaube oder Politik. Es geht um Emotionen, um das Innerste. Regelkonformen geht es da wie Veganern unter Fleischliebhabern. Man bewundert ihre Disziplin, ihre (pflicht)bewusste Art zu leben. Dabei bleibt es aber auch. «Ich könnte das nicht», heisst es dann oft. Auch bei einer Pandemie ist das schade.
Der Versuch von Gefühlen auf Kuschelkurs – die dürfen nämlich
Aber wie geht man nun miteinander um, ohne seinen Liebsten den COVID-Dolch ins Herz zu rammen? Ohne den Ärger über das Verhalten der andern brodeln und sich anstauen zu lassen? Ohne, dass der Vulkan ausbricht? Ohne Streit und ohne auseinanderzudriften?
Es ist wie mit den Corona-Zahlen: Wir müssen offenlegen, was zu viel ist. Es ist unumstösslich, Gefühle ganz transparent zu formulieren und das Verhalten der anderen nicht zu werten. Hinter dem Rücken von Freunden und Familie einen stillen Rumpelstilzchen-Tanz aufzuführen, bringt einen nur unnötig in Rage. Was stattdessen hilft: Ein ehrliches Gespräch darüber, wie es einem im Augenblick mit der Pandemie geht. Womit man die meisten Schwierigkeiten hat. Woran man selbst arbeitet und was einem jetzt hilft. Jedem fällt etwas anderes schwer. Bars haben nicht mehr superlang auf? Na und? Ist doch ganz nett? Manchen fehlt diese soziale Komponente ganz ungemein. Wieder andere kriegen ihren Kopf nicht frei und schaffen es trotz neu gewonnener Freizeit nicht, sich zu melden. Auch wenn man vieles oder gar alles selbst mitnichten nachvollziehen kann: Gegen Groll hilft nur mitfühlen. Oder zumindest der Versuch.
Und muss man dem Superspreader zum nächsten Kaffee dennoch absagen, weil einem unwohl ist, ist es ganz wichtig, zu verdeutlichen, dass diese Distanz nichts mit dem Menschen an sich und der Beziehung zu tun hat. Besondere Zeiten erfordern besondere Massnahmen – und in diesem Fall bedeutet das: so viel Empathie wie möglich.